Felix Paul Greve's Wanderungen
Munich: February 1902



Felix Paul Greve
WANDERUNGEN

Munich 1902
e-Edition by Gaby Divay
© January 2007

University of Manitoba Libraries
FPG & FrL Collections
University of Manitoba Archives


How to cite this e-Edition of Wanderungen




Aus hohen Bergen II

Sage

E
in Adler, den ein Schuss im Fluge streifte,
Da er nach Raub im Hochgebirge zog,
Stürzt in ein Thal hinab, und mühsam kroch
Er durch den Grund. Der Flügel schleifte

Gebrochen und zerzaust im zähen Sande.
Unfähig ganz, den grossen Schwung zu thun,
Unfähig auch, gelassen träg zu ruhn,
Schleppt er sich fort bis zu der Mulde Rande.

Dort, wo das krumme Thal ein andres querte,
Lag eines Dorfes eingeengte Flur
Verlassen da, und wenige Kinder nur,
Verwildert halb, da ihnen niemand wehrte,

Sie spielten in der Felder kargen Beeten
Mit lautem Schrei und rohem Scherz umher,
Und da, sich haschend, sie von ungefähr
Der Lüfte König auf dem Grund erspähten

Und seinen Flügel blutend hängen sahen,
Da stürzten sie in drängendem Gewühl
Herbei und jauchzten ohne Mitgefühl.
Die Kühnsten wagten selbst, sich ihm zu nahen

Und zerrten ihn an der gebrochenen Schwinge.
Doch, als er wütend krampfhaft um sich biss,
Da wichen sie zurück; und endlich schmiss
Ihm einer übers Haupt die enge Schlinge,

Und jubelnd, dass es ihm gelungen, rannte
Er vorwärts, mit der Schnur in fester Hand,
Und sprang hin über frisch gebrochnes Land,
So dass der Strick sich fest am Halse spannte.

Als das die wilde Schar frohlockend schaute
Da stürmt sie lärmend in das stille Dorf.
Der Adler stürzt und über Bruch und Torf
Wird Er[14] geschleift, der, wo der Äther blaute,

Noch jüngst gereckt die mächtgen Flügelschwünge...
Doch -- als im Dorf sie sind, aus einem Haus
Tritt da in weissem Haar ein Greis heraus...
Sie mässigen die wilden, tollen Sprünge...

Denn dieser Alte stand im sichren Rufe,
Er hab ein rettend Kraut für jedes Leid
Und auch bei Bruch und Sturz und Stoss bereit,
Was Heilung brächte; und zu dem Behufe

Sah man ihn oft im Walde einsam suchen...
Als dieser Greis, was vor sich ging, erkannt,
Da hebt, wie abzuwehren, er die Hand
Und reckt sich auf, zu segnen oder fluchen.

Die Rangen packt ein abergläubisch Zagen,
Sie stehn und harren seines Wortes scheu.
Er aber, seinem milden Rufe treu,
Tritt hin und löst den Strick am Federkragen.

Doch sieh! ein Wunder! da den Hals er streicheln,
Da er den Flügel leis betasten will,
Da hält das ungezähmte Raubtier still
Und wendet sich ihm zu, als wollt es schmeicheln.

Er hebt es auf mit seinen dürren Armen,
Vorsichtig schützend den gebrochnen Fang,
und trägt es fort, und wankt mit schwankem Gang,
Und schwindet in der Hütte, in der warmen.

Die Jungen stehn noch eine Weile, harrend,
Doch dann zerstreuen sie sich ohne Laut...
Mit warmem Wasser unterdessen thaut
Der Greis den Schwung, von Blut und Ekel starrend,

Und bindet ihn an eine feste Schiene.
Und da das Werk vollbracht, die Binde sass,
Da eilt er hin und wider ohne Lass;
Zufriedenheit erstrahlt auf seiner Miene.

Er brachte Wasser, rohe Fleischesstücke...
Der Vogel hockt an warmer Ofenwand,
Und frisst zutraulich aus des Greisen Hand,
Als kenne er nicht Arg und List und Tücke...

Doch durch das Dorf indessen hurtig eilet
Die Kunde von dem grossen, seltnen Fang.
Die Bauern wissen es den Rangen Dank,
Und ihm, der klug des Vogels Wunden heilet.

Denn dass ein zahmer Adler, sagt die Sage,
Vor manchem Unheil einen Ort bewahrt,
Und eine Kraft geheimnisvoller Art
Zu Dorf und Flecken, die ihn nähren, trage:

Wenn die Lawinen von den Bergen rollen,
Sie weichen seitwärts in die jähe Kluft;
Und zucken Blitze aus der schwülen Luft,
Sie treffen nicht. Vergeblich Donner grollen.

Und niemals drohen wilde Feuersbrünste,
Ob auch der Föhn verderbenschwanger weht,
Und der Zigeuner frech Gesindel geht,
Versuchend eitel Fluch und Zauberkünste.
 
Drum, kaum dass sie das grosse Wort vernommen,
Da eilt so Mann wie Weib zum stillen Haus,
Wohl schüttelt den und jenen banger Graus,
Doch aller Augen von Erwartung glommen.

Sie pochen wild an die verschlossne Thüre,
Mit lautem Rufen und mit Schreien schrill;
Und da gutwillig niemand öffnen will,
So schallen durch den Abend wilde Schwüre.

Und dann erbrechen mit dem Eisenhammer
Die ersten Thür und Schloss; sie dringen nach
Und stürmen ein ins niedrige Gemach.
Doch, wo der Adler ruht, in kleiner Kammer,

Da steht der Greis und wehrt den wilden Bauern,
Und hebt die Hand dem Schutzgeist gleich der Flur,
Und schwört -- so sah man ihn nie -- wilden Schwur,
Dass ers nicht dulde! und die Alten schauern

Und weichen jäh erschreckt in Angst zur Seite;
Doch junge Burschen stürmen frech hervor,
In denen Wut und Gier zur Kehle gor,
Und stossen ihn beiseit -- er ringt im Streite

Mit dieser jungen Burschen rohen Kräften:
Vergeblich! denn schon taumelt er zurück,
Und stürzt, und liegt, gebrochen das Genick,
Am Ofen, den sein Schädel traf. Sie äfften

Noch grinsend nach die warnende Geberde,
Und drangen in die Kammer, wo der Aar
Am Boden hockt und werden ihn gewahr,
Und bändigen den Lahmen ohn Beschwerde...

Am andren Morgen sass er schon zu langer
Gefängnishaft im neuen Käfighaus...
Am Abend trug den Alten man hinaus,
Ihn zu verscharren auf dem Totenanger....

So strich ein Jahr dahin. Des Adlers Schwinge
War längst geheilt und seiner Kräfte Glut
Zurückgekehrt, doch mählich sank der Mut,
Dass jemals wieder er zu Lüften dringe.

Gleichmässig rannen seine müden Wochen
Im Stundenglas der Zeiten öd dahin,
Da dämmerte wie Perlen und Rubin
Der Morgen, da die Knechtschaft angebrochen.

Ein Festtag wars, und zu dem Kirchengange
Versammelt sich der Bauern ganze Zahl
Bei ihres Dorfes altem Flurenmal,
Und durch die Felder schweigend zieht der lange,

Gemessne Zug zur einsamen Kapelle.
Schon lüften sie den Hut zum heilgen Gruss,
Schon hebt der erste zögernd seinen Fuss
Zum Eintritt hin, als auf der Kirchenschwelle

Der Alte plötzlich steht mit der Geberde,
Wie damals, als den Adler er bewahrt,
Wie damals wallt ihm weiss so Haar wie Bart,
Er reckt sich auf, als ob er fluchen werde.

Entsetzen, Wahnsinn packt die wilden Bauern,
Im Nu zerstiebt der ganze wirre Hauf,
Sie jagen fort in hastig jähem Lauf,
Sich zu verbergen hinter ihren Mauern.

Der Alte aber, stets die Hand gehoben,
Er nähert sich dem todbestimmten Dorf,
Er schreitet ruhig über Bruch und Torf,
Von einem Glanz wie Himmelslicht umwoben.

So tritt er ein in die verlassnen Gassen
Und winket leis bei einem jeden Haus.
Verstohlen schaun die Bauern, bang heraus,
Die hinter den Gardinen bebend sassen.

Er aber geht, als ob ein Geist ihn führe,
Mit sichrem Schritt zum Käfig hin des Aars,
Und - horch! die Glocken! gerade Mittag wars --
Und öffnet weit des engen Kerkers Thüre.

Da dringt ein Rauschen schon zu aller Ohren --
Verschwunden ist der Greis -- er sank hinab --
Der Adler lässt sein langes Wintergrab
Und stösst zur Luft empor, der er geboren.

Er reckt die Schwingen, und schon liegt die Erde
Tief unter ihm und seiner Lüfte Reich --
Doch plötzlich kreist er abwärts und sogleich
Raubt er ein Lamm sich aus der nächsten Herde

Und trägt es aufwärts zu dem Felsenhorste...
Die Bauern siechten langsam nun dahin,
Die Angst, der Schrecken wirrten ihren Sinn,
Sie wagten sich nicht mehr zum nächsten Forste.

Der Adler aber kam mit frischen, starken
Und mächtgen Flügelschwüngen jeden Tag
Zur Flur herab, die bei dem Dorfe lag,
Und rächt des Plegers Tod an den Gemarken.

Wanderungen 15, pp. 37-47




How to cite this e-Edition:
Greve, Felix Paul. Wanderungen (Feb. 1902). e-Edition, Gaby Divay. Winnipeg: UM Archives & Special Collections, ©2007.
pEd/1wan/
Accessed ddmmmyyyy [ex: 20sep2007]


All Content Copyright UMArchives