Mann ohne Eigenschaften / Gaby Divay, e-Ed. ©2009
 
 
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Gaby Divay's German Papers: Musil I
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Die Sprachthematik in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften:
eine werkimmanente Untersuchung*

von
Gaby Divay
University of Manitoba, Archives & Special Collections

© e-Edition, December 2009


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Archives & Special Collections

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Zum Thema Wort
Charakteristika der Wörter
Zu einigen einzelnen Wörter
Zum Thema Bedeutung
Zum Thema Bezeichnung
Zu einigen Fach- und Sondersprachen
Wortlose Sprachen
Sprache und Denken
Sprache und Handeln
Sprache und Wirklichkeit
Ein privates Zeichensystem

Einleitung

Seinem Erstlingsroman Die Verwirrungen des Zöglings Törless (1906) stellte Robert Musil das folgende Motto voran: "Sobald wir etwas aussprechen, entwerten wir es seltsam. Wir glauben in die Tiefe der Abgründe hinab getaucht zu sein ... und wenn wir wieder ans Tageslicht kommen, haben wir nur falsche Steine und Glasscherben mitgebracht; und trotzdem schimmert der Schatz unverändert."

Es stammt von dem belgischen Autor Maurice Maeterlinck und darf wohl als sprachkritische Aussage gewertet werden. Das Problem der Sprache und insbesondere das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit spielt tatsächlich eine wichtige Rolle in diesem Roman, und diesselbe Problematik kann man ebenfalls in Musils fragmentarischem Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften feststellen.

Um Musils Einstellung zur Sprache näher bestimmen zu können, wollen wir eine genaue und werkimmanente Untersuchung anstellen, in der wir alle die Vorkommen von Sprache oder Worten analysieren, die uns relevant erscheinen. Unseres Wissens ist eine solche Analyse bis jetzt noch nicht unternommen worden, und wir hoffen, damit Musils Stellung in der allgemein sprachkritischen Situation der deutschsprachigen Generation von etwa 1880 näher bestimmen zu können.

Der Mann ohne Eigenschaften umfaßt in der 1952 im Rowohlt Verlag erschienenen Ausgabe 1561 Textseiten und gliedert sich in vier Teile, von denen der letzte 539 Seiten hat und aus dem Nachlaß vom Herausgeber Adolf Frisé zusammengestellt worden ist. Er ist dementsprechend titellos, und beinhaltet auch den "Schluß des Dritten Teils". Der erste Teil, "Eine Art Einleitung", umfaßt 70 Seiten; der zweite Teil heißt "Seinesgleichen geschieht" und zählt 582 Seiten; der dritte Teil, "Ins 1000jährige Reich" betitelt, hat 370 Seiten.

Insgesamt 167 mal haben wir ein explizites Vorkommen der Sprach- oder Wortthematik festgestellt, so daß dieses Thema durchschnittlich alle 9 Seiten auftaucht. Die relative Häufigkeit ergibt allerdings einen anderen Eindruck: im ersten Teil konnten wir auf 70 Seiten nur ein Vorkommen notieren; der Zweite weist immerhin 36, der Dritte 51, und der Vierte 79 auf. Damit liegt die durchschnittliche Frequenz der sprachthematischen Behandlung in den ersten beiden Teilen bei etwa 171/2 Seiten; sie ist dort also fast doppelt so selten wie der allgemeine Durchschnitt vermuten läßt. In den beiden letzten Teilen kommt das Sprachthema dagegen etwa alle 7 Seiten zum Tragen; es ist also etwa 25% häufiger als der allgemeine Durchschnitt und mehr als doppelt so häufig als in der ersten Hälfte des Romans.

Im Folgenden wollen wir uns nun zuerst dem Thema der Worte als der kleinsten sprachlichen Formeinheit zuwenden. Dabei ist zu untersuchen, ob und wie sie ihre Aufgabe, die Wirklichkeit zu verarbeiten und zu organisieren, erfüllen. Danach wollen wir einzelne Wörter oder auch Wortverbinungen, die im Laufe des Romans thematisiert werden, näher beleuchten. Das Sprachtthema wird dann anschließend zunächst unter den Aspekten von Bedeutung und Bezeichnung, Inhalt und Form, Eindeutigkeit und Mehrdeutigkeit beschrieben. Dann ist das Verhältnis von Sprache und allerlei Sondersprachen zu untersuchen, denen eine Gruppe von sprachlosen Ausdrucksmöglichkeiten gegenübergestellt werden. Schließlich werden die überaus schwierigen Probleme der Beziehungen zwischen Sprache und Wirklichkeit, Sprache und Denken, Sprache und Handeln, Sprache und Gefühl angeschnitten, sofern sie nicht schon in anderem Zusammenhang behandelt worden sind.

Zum Thema Wort

Was bei einer Betrachtung des Materials zum Thema Wort in diesem Roman auffällt ist, daß es sich ganz allgemein und von äußert seltenen Ausnahmen abgesehen als ungenügend erweist. Vor allem wenn es darum geht, Gefühl auszudrücken oder in gefühlsgeladenen Situationen eine kommunikative Verbindung zwischen den Beteiligten herzustellen, wird sein völliges Versagen offenkundig. So fehlen zum Beispiel sogar in verhältnismäßig unkomplizierten Situationen ganz einfach die Worte: Rachel findet keine, die ihrer anfänglich grenzenlosen Bewunderung für ihre Herrin Diotima Ausdruck verleihen könnten (S.339). Bei dem mißglückten Liebesabentheuer Ulrichs mit Gerda hat Gerda gar keine Worte mehr zur Verfügung, selbst als sie sich langsam von ihrem hysterischen Anfall erholt. Sie will auch keine hören, sondern hat "keinen anderen Wunsch als ohne ein Wort sagen zu müssen nicht mehr da zu sein" (S.624). Ulrich dagegen bezeichnet die ihm "unwillkürllich" und seinen "ärgerlichen Gedanken" zuwiderlaufenden Trostworte, die er an Gerda richtet, als "zusammengefegte Wortspreu" (S.623). In dem fragmentarischen Kapitel Clarise verführt Ulrich, fehlen Ulrich in Anbetracht der außergewöhnlichen Situation, in der er sich mit der Frau seines Jugendfreundes Walter befindet, ebenfalls die Worte (S.1461).

Ulrichs Cousine Diotima ist eine der wenigen Personen, die glauben, daß "das Wort" Großes vermag (S.503), und die doch leicht von Arnheims Urteil zustimmt, daß "die wahre Wahrheit zwischen zwei Menschen ... nicht ausgesprochen werden (kann)" (S.505). Nun ist es gerade Diotima, die Sprache in höchstem Maße unreflektiert gebraucht. In ihrem platonischen Höhenflug mit von Arnheim beherscht ein hochgestochenes Vokabular die Szene, und große Worte wie Liebe (die rein platonische, natürlich!), Wahrheit, und vor allem Seele müssen ihren nebulösen Charakter und ihre letztliche Leere hinter dem lakonisch wiederkehrenden Hinweis verbergen, daß eben solche edlen Dinge und vor allem solche überaus subtilen Empfindungen nicht wörtlich zu erfassen sind. Ihr pragmatisch veranlagter Mann, der Sektionschef Tuzzi, versucht ehrlich die alarmierenden schöngeistigen Bestrebungen und ihm unverständlichen Launen seiner Frau zu begreifen, die er bis zu von Arnheims Erscheinen nicht wirklich ernst genommen hat. Denn "ernst nahm dieser erfahrene Mann nur die Macht, die Pflicht, hohe Abkunft und in einigem Abstand davon die Vernunft." (S.106). Im Zusammenhang mit dem problematischen Konzept Seele sagt er zu Ulrich, daß es mit einer Höhe zu tun habe in der es weder "Gedanken, Worte noch Taten" gebe, sondern nur "geheimnisvolle Mächte und erschüttertes Schweigen" (S.805); es handelt sich um eine ihm unverständliche und unerreichbare Sphäre des Daseins.

Übrigens ist schon der offizielle Name des Ehepaars Tuzzis Ausdruck für eine lügenhafte Verdrehung der Wirklichkeit. Ulrich gibt seiner Cousine den Namen Diatoma wegen ihrer seelenvollen Veranlagung, "geistigen Schönheit" (S.92) und idealistischen Einstellung, noch bevor er sie wirklich kennelernt. Aber "in Wirklichkeit hieß sie Ermelinda Tuzzi und in Wahrheit sogar nur Hermine". Ihr Mann ist immerhin weniger anspruchsvoll und nennt sich trotz seines italienischen Nachnamens schlicht Hans und nicht Giovanni. Seine Kenntnisse der italienischen Sprache hat er erst auf der Konsularakademie erworben (id.).

Diotimas Unterhaltungskünste werden von Ulrich auf folgende Weise umschrieben: "sie handelte nun vollkommen arglos wie ein feuchtes Schwämmchen, welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung in sich aufgespeichert hat ... indem sie mit großer Freude kleine `hochgeistige Ideen´ an passenden Plätzen in ihre Unterhaltung einflocht" (S.98). Diotimas "natürliche Natur" (S.1545) kommt erst zum Durchbruch, als sie unter dem Einfluß des Alkohols, der Enttäuschung über von Arnheims Verhalten und einer Dosis strategischer Brutalität von seiten Ulrichs dessen sexuellen Begehren nachzugeben bereit ist. Alles großartige Gerede kommt ihr da abhanden, und nur noch "weit zurückliegende Kinderworte und Gebärden" (S.1547) stehen ihr in dieser Situation zur Verfügung.

Von Arnheim, der seinen gut ausgebildeten Geschäftssinn geschickt mit Politik zu verbinden weiß - sein Interesse an den galizischen Ölfeldern und der auf den Krieg zuführenden Rüstungsindustrie wird erst recht spät im Roman aufgedeckt - ist in seiner Schöngeisterei noch unehrlicher als seine Seelengefährtin Diotima, gerade weil er sie seiner praktischen Veranlagung nur wie einen jederzeit wieder ablegbaren Luxus aufgesteckt hat. Als er Ulrich an Sohnes statt anzunehmen erwägt, erweisen sich auch für ihn die Worte als inadäquat. Das Gefühl, daß Ulrich auf rätselhafte Weise sein ehrlicheres Doppelbild sein könnte (in Ulrich sieht er "einen Nebenkrater, an dem man die Unheimlichkeiten der Vorgänge erkennt, die sich im Hauptkrater vorbereiten"), läßt sich noch nicht einmal gedanklich formulieren: "Hier versagten aber Arnheim die Worte trotz ihrer stummen Verborgenheit" (S.641).

Der Sexualverbrecher Moosbrugger - als zurechnungs- oder unzurechnungs- fähig eingestuft, je nach der weltanschaulichen Ausrichtung der Juristen und Mediziner, die sich mit seinem Fall befassen - ist ein typisches Beispiel für akute, wenn auch anders gelagerte Sprachnot. Deutlich kann er sich nur an die Orte seiner Taten erinnern. Denken ist ein langsamer Prozeß für ihn, und "Worte bereite(n) ihm Mühe" (S.238). Wenn er sie am notwendigsten braucht "(kleben sie ihm) wie Gummi am Gaumen fest" (ibid.). Trotzdem befinden sich auch die Juristen, die sich ungleich leichter und eleganter ausdrücken können, in keiner besseren Situation, "denn von den wirklichen Zusammenhängen (haben) auch sie keine Ahnung" (ibid.). Worte können also nicht die tatsächlichen und relevanten Gegebenheiten klarstellen oder vermitteln. Sie bilden eine undurchdringliche Wand zwischen dem, was sich abgespielt hat, und dem, was daraus gemacht wird. Der Preis der daraus resultierenden Diskrepanz ist in diesem Fall sehr hoch, denn es handelt sich um Sein (Gefängnisstrafe) oder Nichtsein (Todesurteil).

Als Ulrich und Agathe mit dem "anderen Zustand" experimentieren, wird klar, daß die Worte jedem mystischen Erleben feindlich sind. So steht das realitätsbezogene und sprachliche Dasein im Für etwas Leben dem gefühlsstarken und wortlosen In etwas Leben gegenüber (S.1329). Am Anfang ihrer langwierigen Bemühungen den "anderen Zustand" zu finden und ihm Dauer zu verleihen, erfährt Ulrich als er Agathe beim Ankleiden behilflich ist, daß sich seine Empfindung dabei "nicht recht in Worte fassen" läßt. Er führt es darauf zurück, daß er in seiner Schwester "eine Frau, wie daß er keine Frau in nächster Nähe vor sich habe" (S.898). Agathe ist hier wie auch anderswo sein alter ego, und in dieser Situation scheint es Ulrich, "als sei ihm da selbst ein zweiter, weit schönerer Körper zu eigen geworden" (ibid.). Diese Szene spielt deutlich auf Platons androgynen Mythos an, der für diese Geschwisterbeziehunmg auch an zahlreichen anderen Stellen grundlegend ist. Zu einem späteren Zeitpunkt bemerkt Ulrich: "... wenn mir Agathe etwas sagt, ist es immer, als ginge ihr Wort durch mich, und nicht bloß durch den Gedankenbereich an den es sich wendet." (S.1211). Die einzigen Worte die er findet, um sein außergewöhnliches Einverständnis mit ihr zu beschreiben, sind in höchstem Grade metaphorisch, nämlich milchig und opalisierend: "Was zwischen uns geschient, ist wie eine Bewegung in einer schimmernden, aber nicht sehr durchlässigen Flüssigkeit, die immer ganz mitbewegt wird" (S.1212). Er weiß, daß sie sich "in Einklang" befinden, "aber womit ist nicht zu sagen." (id.). Agathe beschreibt ein frühes mystisches Gott-Erleben mit "schauerliche(r) Weite und Leere", "uferlose(r) Helle", und "Angst" (S.859). Dinge und Emfindungen durchdringen sich gegenseitig (S.860), und Worte haben dabei keine Aufgabe mehr. Sie vergißt alle Worte, weil ihr Geist nur mit "leuchtenden Nebeln" erfüllt ist (S.861).Nur Ulrich ist imstande, ihr einen Halt zu geben, indem er "aus seinen Worten ein Land ... unter ihren Füßen" zu bilden scheint (S.861).

Dies ist eine der insgesamt vier "positiven" Vorkommen, in denen den Worten und damit der Sprache eine Ordnungsfunktion zugestanden wird. Sie gehören allesamt zu der Ulrich-Agathe Konstellation. Einmal, auf ihrer Reise ins Paradies, empfinden sie nach bedrückender Hitzewelle einen Regentag als Erlösung, und für ihre Seelen, die im Einklang mit ihrer Umgebung mit "zwei hart gebrannte(n) Ziegelsteine(n), aus denen jeder Tropfen Wasser gewichen ist" verglichen werden, sind die wiedergefunden Worte nach ihrer intensiven kontemplativen Lebensweise erquickend (S.1425). Ein anderes Mal handelt es sich um den Gärtner, der für Ulrich durch seine Fähigkeit, Pflanzen mit ihrem Namen zu bezeichnen, das scheinbare Blumenchaos ordnet: "Dann nannte dieser alte Mann einen unbekannten Namen, und alles kam wieder in Ordnung, und der uralte Zauber, daß der Besitz des richtigen Wortes Schutz vor der ungezähmten Wildheit der Dinge gewährt, erwies seine beruhigende Macht wie vor zehntausend Jahren" (S.1088). Schließlich ist da noch Agathes Hinweis auf einen Abschnitt aus dem Evangelium, nach dem die Wirklichkeit nur "ein Wort und Gleichnis des Herrn" ist. Ulrich ergänzt, daß "jedes Wort Buchstabe in einer großen Schrift" sei. Dieser Topos entstammt der Scholastik, und inbesondere Thomas von Aquino und Raymundus Lullus werden dafür verantworlich gemacht (Philosophisches Wörterbuch, S.696; Hugo Friedrich, S.111). Natürlich hat der Gedanke , daß Natur und Schöpfung wie ein großes Buch sind, aus denen man die Größe und die Wirkung Gottes lesen kann, wenig mit der menschlichen Sprache zu tun. Die "Worte" hier sind eine Metapher für die Dinge, das "Lesen" ist direkte, wortlose Erfahrung der Realität. Damit bildet diese scheinbar dem Wort so gut gesonnene Analogie eigentlich den genauen Gegenpol zu der sprachlich vermittelter Erkenntnis, und steht für eine direkte, gefühlsmäßige Erfassung der Welt.

Für diese Letztere und vor allem ihre extreme Vervollkommnung in der mystischen Erleuchtung, ist ein Zurückweichen der Worte (S.1411) typisch. Auf dem Weg zu Lindner entschließt sich Agathe, ihm von ihrem mystischen Gotteserlebnis mitzuteilen und damit "ganz Unfaßbares aus dem Zwielicht ans Licht zu holen" (S.1064). In ihrem Bewußtsein befindet sich "an der Stelle (dafür) kein Wort, sondern bloß ein überraschtes Gefühl". Als Agathe und Ulrich auf der Reise ins Paradies ihre totale (und daher vielleicht auch körperliche) Vereinigung erleben, deren Beschreibung den Erleuchtungserfahrungen während der uniomystica, der mystischen Vereinigung mit Gott, bei den Vertretern der deutschen Mystik sehr ähnlich ist, stellen sie fest, daß "übermäßige Klarheit" sie umgibt obwohl nicht nur die Worte, sondern auch der Wille und die normalen Sinnesfunktionen ausgeschaltet sind (S.1411): "Alle Worte waren weithin zurückgewichen, der Wille leblos ... Sie sahen ohne Licht und hörten ohne Laut" (id.). Ein dialektisches Umschlagen der normalen Gegebenheiten läßt sich feststellen: "Sie bemerkten, daß sie gar nicht stumm geworden waren, sondern sprachen, aber sie wählten nicht Worte, sondern wurden von Worten erwählt." Auch die Dinge sind keine "einander abwehrenden ... Körper" mehr, sondern "geöffnete und verbundene Formen" (S.1412). In dem Kapitel Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse reflektiert der Erzähler über die besonderen Bedingungen, die in den Mondnächten dominieren, von denen im Gespräch der Geschwister die Rede war. Dabei ist von dem kreativen Dunkel und einem absoluten Gefühlsprimat die Rede ("flutendes Erlebnis"), und von einem Ineinanderfließen der äußeren mit den inneren Verhältnisse. Dies geht einher mit einer Entwertung oder Relativisierung der Worte: "Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn ... Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr" (S.1084).

Besonders interessant erscheint uns Clarisse in ihrem Verhältnis zu den Worten und zur Sprache. Sie durchlebt eine regelrechte Chandos-Krise, wie sie in Hofmannsthals kurzem Prosastück Ein Brief von 1902 so eindrucksvoll geschildert wird. Schon lange bevor sie den Kontakt zur Realität verliert stellt sie fest, daß Worte klappern und Wissen nicht adäquat vermitteln können. Diese sprachkritische Einstellung ist nur ein Ausdruck ihrer der antiken Skepsis sehr ähnlichen Gesamteinstellung, die sich sowohl in ihrer Einsicht des Nichtwissens als auch in ihrer Erfahrung der Welt als chaotisches Durcheinander ausdrückt: " Sie wußte überhaupt nichts ... Sie wußte damals noch gar nichts von der Welt. Sie glaubte auch nichts was man ihr darüber erzählte ...: das waren klappernde Worte." Mit Walters Erscheinen ist auf einmal "die Welt keine wüste, regellose, zerbrochene Fläche mehr, sondern ein schimmernder Kreis:" (S.145) dessen Mittelpunkt Walter und sie selbst bilden. Später dann, als sie sich mehr und mehr aus der Wirklichkeit zurückzieht, erscheinen ihr die Worte zu abgenützt, um auch nur etwas von ihrem intensiven Erleben mitzuteilen. So empfindet sie sich selbst beispielsweise als ein Doppelwesen und ist von einem Erlösungsgedanken besessen. Viele Wörter erscheinen ihr als "Doppelworte" von deren zweifacher Bedeutung "die eine geheim und persönlich ist" (S.922). Die Einsicht, daß "eine doppelte Sprache ... ein doppeltes Leben" bedeutet, kann sie nicht ausdrücken. "Und je weniger sich Clarisse darüber aussprechen konnte, desto lebhafter entfalteten sich innen die Worte und gingen rascher, als sie einzusammeln waren" (S.923). Sprache versagt für sie vollkommen, als sie sich der Realität fast total entfremdet fühlt. Die Beschreibung dieses Vorganges, die sie Ulrich auf ihrer Insel gibt, trägt auffallende Parallelen zum Chandos-Brief (S.1526-1528). Von einer relativen (sprachlichen) Beherrschung der Dinge führt der Verfall zu einer hilflosen und bescheiden akzeptierten Unterwerfung unter die Dinge. Eine Atomisierung des Ichs und damit einhergehend der Welt sind Symptom oder vielleicht auch Grund des rasch fortschreitenden Zerfalls: "Clarisse entdeckte, daß sie ein Schleier von Gefühl war, aus dem sie hervorging, und auf der anderen Seite die Dinge. Sie erhielt wenig später die fürchterliche Bestätigung: sie nahm dann alles, was um sie vorging, genau so richtig wahr wie früher, aber es war völlig beziehungslos und entfremdet geworden. Ihre eigenen Gefühle kamen ihr fremd vor, als ob sie ein anderer empfände oder als ob sie in der Welt umhertrieben. Es war als ob die Dinge einander schlecht angepaßt waren. Sie fand keinen Halt mehr in der Welt ... und fühlte mit unsagbarer Not, wie sie unaufhaltsam aus der Welt hinausgedrängt wurde" (S.1527). Als letzte Rettung entdeckt sie, daß "die Gefühle die Welt verändern" und daß "die Dinge in Gefühl schwimmen" (ibid.), und entwickelt ein eigenes Sinnsystem, das sie für fundamental und ebenso real wie die Wirklichkeit hält. Seine Grundlagen sind Stimmungsfarben: "Clarisse hatte selbst erlebt - als sie Walter betrog ... wie die Welt schwarz wurde; aber das war keine wirkliche Farbe, sondern eine ganz unbeschreibliche und später wurde diese "Sinnfarbe" der Welt, wie Clarisse das nannte, hart gebranntes Braun" (S.1528). Für sich selbst bestimmt sie die "Seelenfarbe Dunkelrot" (S.1529), die dann zum Tragen kommt, wenn "das durch allerhand Beziehungen gehemmte Genie "erlöst ist.

Auf diesen Extremfall eines völlig privaten Sinn - und später auch Zeichen- systems werden wir noch in dem Kapitel über die Fach - und Sondersprachen zurückkommen.

Um auszudrücken was sie bewegt, versucht Clarisse sich im Dichten. In gewöhnlichen Gedichten aber "ist zuviel starre Vernunft, die Worte sind wie ausgebrannte Begriffe, die Syntax reicht Stock und Seil für Blinde, der Sinn kommt vom Boden nicht los, den alle festgetreten haben, die erweckte Seele kann in solchen Eisenkleidern nlcht wandeln. Clarisse fand heraus, daß man Worte wählen müsse, welche keine Begriffe sind; da es die aber nicht zu geben schien, wählte sie dafür das Wortpaar. Wenn sie "Ich" sagte: niemals war dieses Wort fähig so lotrecht aufzuschießen, wie sie es fühlte, aber Ichrot ist noch von nichts festgehalten und flog empor" (S.1530-31). Ähnlich durchbricht sie, was sie "die Chemie der Worte" nennt, und womit sie das syntaktische Gruppenverhalten der Wörter bezeichnet, indem sie Ausrufungszeichen, Unterstreichungen und Wiederholungen anwendet. "Gott!! rot!!! fährt! Solche Pfähle halten auf und das Wort staut sich an ihnen zu seinem vollen Sinn" (S.1531). Bis zu zehnmaliges Unterstreichen verleiht ihrem Schriftbild das Aussehen "eine(r) geheimnisvolle(n) Notenschrift" (ibid.), und Wiederholung verleiht dem Wort größeres Gewicht ... als die Kraft der syntaktischen Bindung, und das Wort (beginnt) ohne Ende zu sinken. Gott fährt grün grün grün grün. Es war ein unerhört schwieriges Problem, die Zahl der Wiederholungen so richtig zu bemessen, daß sie genau das ausdrückte, was gemeint war" (S.1531). Als Clarisse auf Anregen Ulrichs aus einigen Gedichten Goethes eine Art Wortcollage machen soll, kommen nur je zehn in zwei Reihen geordnete Bindestriche dabei heraus (ibid.). Ihren unorthodoxen Wortverbindungen schreibt Clarisse eine elementare kreative Kraft zu: "Diese lodernden, noch nicht zu bestimmten Bedeutungen eingeengten Wortberbindungen wurden in der Erde der gewöhnlichen Sprache gepflanzt und bilden deren Fruchtbarkeit", die für sie vuklanischen Ursprungs ist. Um sich vor der Erstarrung, wie sie allen sprachlichen Zeichen und dementsprechend auch den Bewußtseinsstrukturen anhaftet, muß "der Geist immer wieder zu Urelementen zerfallen ..., damit das Leben fruchtbar bleibt" (S.1531). Der Erzähler weist mit einer Andeutung auf den expressionistischen Gedichtsstil darauf hin, daß "wenige Jahre nach C.arisse ... ein ähnliches Spiel mit Worten ahnungsvolle Mode der Gesunden geworden" ist (S.1531). Als sie schließlich in Venedig großflächige Bilder an die Wände ihres Hotelzimmers malt, ist sie "über den artikulierten Ausdruck des Lebens hinaus, welcher Worte und Formen schafft, die ein für alle angerichtetes Kompromiß sind, wieder bei der zauberhaften ersten Begegnung mit sich selbst angelangt, dem Irrsinn des ersten Staunens über das Göttergeschenk Wort und Bild" (S.1556).

Zwei Beispiele sollen abschließend noch einmal die Charakteristik des Unvermögens in Bezug auf die sprachliche Repräsentation der Gefühlsbereiche zusammenfassend vertreten. Obwohl beide bestimmten Situationen entstammen, erscheinen sie uns typisch und zu diesem Zweck geeignet.

Ulrich beschäftigt sich mit einer schriftlichen Auseinandersetzung über Art, Beschaffenheit, Ursache und Funktionsverhalten von Gefühl. Er beleuchtet dieses Thema von allen nur möglichen Seiten und kommt schließlich zu folgender Einsicht: die polare Einteilung in Innen und Außen, Person und Welt stimmt nicht mit "den beiden Wirksamkeiten des Gefühls" überein. Vielmehr unterläuft hinsichtlich des Gefühls die Unterscheidung bestimmt und unbestimmt alle anderen. Aber "die Worte `bestimmt´ und `unbestimmt´" gefallen Ulrich auch nicht, "obwohl sie bezeichnend (sind)", und so sehr er sich auch anstrengt, kann er keine rechten Worte finden; auch einen anderen Versuch verwirft er, nachdem er ihm einen Moment lang befriedigend erscheint, und "ehe er auch diese Worte ebenso ungnügend (findet) wie alle anderen, von denen er noch ein Dutzend (ausprobt)". Schließlich entscheidet er, "daß die Sprache nicht für diese Seite des Daseins geschaffen ist" (S.1317).

Als Ulrich und Agathe ein Gespräch über die Testamentsfälschung führen, erweist sich, daß das, was nach gewissen Konventionen aussprechbar ist, "eigenartig eingeengt" ist. Als Beispiel werden die Bereiche der Musik, der Gedichte, des Krankenlagers und der Kirche gegeben. "Was sollte das nächste Wort sein, was sollten sie tun? Die Unsicherheit glich einem Netz, worin sich alle unausgesprochenen Worte gefangen hatten" (S.1363). Hier sind ungeschriebene Gesetze der Hemmblock sprachlicher Kommunikation, für deren Mangel andere Mittel nutzbar gemacht werden müssen.

Sind die Worte einerseits ungenügend in gefühlsmäßigen Situationen und haben sie gerade da eine Tendenz zu versagen, zeigen sie andererseits eine ärgerliche Autonomie in eben demselben Bereich. In zahlreichen Situationen müssen die Personen in diesem Roman feststellen, daß sie Worte ohne ihr Zutun, also ganz automatisch, äußern. So haben zum Beispiel die Worte in der schon erwähnten Ulrich/Gerda Szene (S.623), oder in der mystischen Vereinigung von Agathe und Ulrich (S.1412), wenig mit bewußt eingesetzter Ausdruckskraft zu tun. Ähnlich wie in Clarissens "Chemie der Worte" (S.1530), die aus dem uns natürlich anmutenden Gruppieren von Wörtern in syntaktischen Fügunen einen primär passiven vorgang machen, bahnen sich viele Worte vollkommen unkontrollierbar und oft einem möglichen Ausdrucksziel zuwider ihren Weg.

In einem Gespräch mit Seiner Erlaucht dem Grafen von Leinsdorf, gebraucht Ulrich zu seiner Überraschung eine andere Wortverbindung als geplant: "Mit einem Wort, die Schöpfung ... ist nicht einer Theorie zuliebe entstanden, sondern - und er wollte sagen aus Gewalt, doch da sprang ein anderes Wort ein, als er es erwartet hafte, und sein Gedanke ging so zu Ende: sondern sie entsteht aus Gewalt und Liebe, und die übliche Verbindung zwischen diesen beiden ist falsch!" (S.591).

Bei der Verführung Ulrichs durch Clarisse (oder umgekehrt, das ist keineswegs eindeutig!) ruft Ulrich Clarissens Namen in folgender Weise: "Bevor ihm noch irgend etwas einfiel, sagte sein Mund: `Clarisse!´ Das hatte sich gepackt, gurgelnd aus dem Hals gelöst, war wie ein fremdes Geschöpf aus seinem Hals gewachsen" (S.1461). Clarisse "brennt ihm unverständliche Worte ins Gesicht", und dann "hielten sie beide nicht mehr ihre Worte ... alle Worte der Liebe ... überstürzten sich ..." (S.1462).

Auf ähnliche Weise gibt der Betrunkene in dem Zwischenfall, der zu Ulrichs Verhaftung führen soll, Worte von sich, die sich seiner Kontrolle entziehen: "Das erregte Aufsehen ... schmeichelte dem Betrunkenen ... Ein höheres Gefühl von seinem Ich setzte sich mit dem unheimlichen Gefühl auseinander, als wäre er nicht fest in seiner Haut. Auch die Welt war nicht fest; sie war ein unsicherer Hauch, der sich immerfort deformierte und die Gestalt wechselte ... Ein wundersames Strömen aus dem Inneren hatte begonnen; Worte kamen aus dem Innern herauf, von denen nicht zu begreifen war, wie sie vorher hineingekommen waren, möglicherweise waren es Schimpfworte. Das ließ sich nicht so genau unterscheiden. Außen und Innen stürzten ineinander" (S.157).

Auch Rachel macht dem betrunkenen Moosbrugger unbeabsichtigte Vorwürfe: "Moosabrugger war, als er nach Hause kam, betrunken. Die Stube füllte sich mit üblem Gesuch, sein Schatten tanzte an den Wänden. Rachel war entgeistert, und ihre Worte liefen in spitzen Vorwürfen diesem Schatten nach, ohne daß sie es selbst wollte" (S.1484).

Das Verhältnis zwischen Walter und Ulrich war einmal sehr eng. Zur Zeit des Romans besteht aber eine gewisse und unverkennbare Animosität zwischen den beiden Freunden. Ulrich "begann sich danach zu sehnen, einmal mit einem Menschen zu sprechen, mit dem er ganz übereinstimmen könnte. Solche Gespräche hatte es zwischen Walter und ihm einst gegeben. Da werden die Worte von einer geheimen Kraft aus der Brust geholt, und keines verfehlt sein Ziel. Wenn man dagegen mit Abneigung spricht, steigen sie wie Nebel von einer Eisfläche auf" (S.218). Ob Abneigung oder Zuneigung, die Atmosphäre der Unterhaltung entwickelt sich aus einer unbekannten Eigengesetzlichkeit. Walter geht es nicht anders: er drückt "unwillkürlich" seine Abneigung gegen Ulrich aus, die sich aus einem alten körperlichen Unterlegenheitsgefühl herleitet, denn er ist ansonsten der Meinung, "daß Ulrich außer ein paar nackten Verstandesproben nie etwas geleistet habe" (S.65). "Das Bild, das er (von Ulrich Clarisse gegenüber) entwarf, befreite ihn wie das Gelingen eines Kunstwerks; nicht er stellte es aus sich hinaus, sondern an das geheimnisvolle Gelingen eines Anfangs geknüpft, hatte sich außen Wort an Wort gesetzt, und ... als er fertig war, thatte er erkannt, daß Ulrich nichts ausdrücke als dieses aufgeløoste Wesen, das alle Erscheinungen heute haben" (S.65).

Abschließend zur Autonomie der Wörter sei noch gesagt, daß die unwahrscheinlichsten Wortgespinste oft einen Kern von Wahrheit bedecken, und indem so "Worte ... immer neue Worte (anspannen), dieselbe pompös verfälschen" (so Ulrich über die Briefe des Protofaschisten Hans Sepp, S.1454). Und manchmal - wie in der Testamentsfälschungsszene (S.1363) - realisieren sich die Worte auf unfertige Weise: "die Worte fallen, ehe sie noch gedacht sind, wie kranke Vögel aus der Luft und ersterben", das heißt, das spontane Kommunikationsbedürfnis verläuft wirkungslos im Sande.

Characteristika der Wörter

Wenn die Sprache anhand der Wörter im gefühlsmäßigen Bereich also prinzipiell ein eigenwilliges und der menschlichen Kontrolle entzogenes Verhalten an den Tag zu legen scheint, indem sie entweder versagt oder spontan zum Ausdruck drängt, lassen sich anhand der ihr implizit oder explizit zugestandener Charakteristika im Roman eine Anzahl - in der Regel wieder negativ zu bewertenden - Merkmale auf zeigen.

Sprachliche Zeichen erweisen sich demnach als relativ (S.94, 560, 730l,823), arbiträr (S.1276), vague, nebulös und ungenau (S.391, 973,1317,1329, 1364), oberflächlich (S.1089), unrationell (S.968), und chaotisch (S.155, 239), was auch mit unbeständig verbunden sein kann (S.1123). Sie können pompös, verlogen oder ganz einfach leer sein (S.512,518). Sie haben eine Tendenz zu verzerren (S.1071) oder verzerrt aufgenommen zu werden (S.1163), zu zerfasern (S.823), zu begrenzen (S.29, 1163,, 1276), oder zu vereinfachen (S.1567, 1569). In ihrer Wirkung können sie schockieren (S.861), und verletzen (S.218). Alles in Allem kann man ihre Eigenschaften wohl auf den gemeinsamen Nenner von ungenügend (ähnlich auch S.1333) bringen.

Wir wollen nun einige uns repräsentativ erscheinende Beispiele herausgreifen und in diesem Sinne näher untersuchen. Der alte Diener in Ulrichs Vaters Haus fühlt sich durch das von Agathe verwendete Wort nackt so schockiert, daß er "zu der höflichen Dienermaske, deren Ausdruck versichert, daß man weder sehen, noch hören, noch urteilen wolle" erstarrt (S.863-64). Worte können aber auch wirklich verletzen, wenn statt des bloßen Schamgefühls das Selbstgefühl auf dem Spiel steht. Das macht sich vor allem in dem gespannten Verhältnis von Ulrich und Walter bemerkbar. In ihrem Streitgespräch über die Aufgabe des Individuums in der aktuellen Gesellschaft zum Beispiel stimmen Ulrichs Gefühle nicht mit seinen Worten überein: "In der Höflichkeit lag die Verachtung so klar wie ein Leckerbissen in Aspik" (S.218), und er weiß, daß auch seine Abneigung verletzend klar zum Ausdruck kommt: "Wenn man ... mit Abneigung spricht, steigen (die Worte) wie Nebel von einer Eisfläche auf" (ibid.). Walters schon oben erwähnte Beschreibung Ulrichs kann auch keinen Anspruch auf objektive Widerspiegelung erheben; vielmehr ist es ein subjektiv verzerrtes Bild, mit dem Walter sich in seinen Ressentiments Erleichterung verschafft. Ähnlich empfindet auch Agathe, daß die Briefe ihres verlassenen Mannes ein äußerst ungünstiges Bild von ihr entwerfen: "Hagauers Briefe (verzerrten) ihr Abgbild so abscheulich wie ein schlechter Spiegel, ohne daß sich die Ähnlichkeit ganz hätte leugnen lassen" (S.1071).

Eine weniger verzerrende als zersetzende Eigenschaft der Worte kommt auch im folgenden Bespiel zum Tragen: im Zusammenhang mit der Leidenschaft die Ulrich und Agathe füreinander empfinden, und die als "bittere Süße", als "Brennen des Ich und der Welt", und als das "Gefühl einer Zerstörung wie das eines Glückes" umschrieben wird (S.1365), sucht Ulrich nach einem Halt in der Realität: "Ulrich rang oft nach einem Wort ... es müßte nur etwas Gleichgültiges und Wirkliches sein ... das die Seelen in einen Zusammenhang der Wirklichkeit zurückversetzt ... Nur ein Verrat am Augenblick müßte es sein; das Wort fällt danhin die Stille, und im nächsten Augenblick blinken ringsherum andere Wortleichen auf, wie die toten Fische massenhaft emporsteigen, wenn man Gift ins wasser wirft" (S.1366). Hier ist das Wort leer und tot, und auch seine Wirkung ist zerstörend.

Schließlich ist noch die symbolische Bedeutung von Ulrichs Gartengitter zu erwähnen. Es stellt einmal die Trennung zwischen den Geschwistern und der Außenwelt dar, wobei man ihm zugleich eine Schutz- und eine Gefängnisfunktion zuschreiben könnte. Zum anderen aber hat es den Sinngehalt der Verzerrung, denn sowohl die optischen wie auch die akustischen Signale werden von ihm gebrochen: "Und wenn plötzlich Worte herübergetragen wurden, so waren sie abgerissen, und der Sinn war nicht zu verstehen" (S.1163). Ähnlich wie bei der Wolke des Polonius (S.1364) kann dann jeder hineinlegen, was ihm paßt. Auf dieses wichtige Gleichnis aus Shakespeares Hamlet, das in einem Gespräch zwischen Ulrich und Agathe eine Rolle spielt und ein allgemein epistemologisches Problem auswirft, werden wir noch zurückkommen müssen.

Was die Relativität der Worte angeht, so wird ihre Wichtigkeit besonders in zwei Situationen in sprachlich relevanter Weise erörtert, und in einer dritten impliziert. In einem Gespräch zwischen Diotima und Ulrich kommen in diesen beiden Personen polare Einstellungen zur Darstellung. Diotima verkörpert wie immer einen wenn auch noch so leeren Idealismus. Vom "Größten und Wichtigsten der Welt" ist bei ihr die Rede. Ulrich vertritt dagegen den Standpunkt des Relativen, was offensichtlich mit Zweifel und Skepsis zusammenhängt: "Alles läuft daraus hinaus, daß das eine größer,wichtiger oder auch schöner oder trauriger ist als das andere, also auf eine Rangordnung und einen Komparativ, und dazu gibt es keine Spitze und keinen Superlativ? Macht man jedoch jemand, der gerade vom Wichtigsten und Größten sprechen will, darauf aufmerksam, so faßt er das Mißtrauen, es mit einem gefühllosen und unidealistischen Menschen zu tun zu haben. So ging es Diotima, und so hatte Ulrich gesprochen" (S.94).

Als Ulrich Agathe einen Brief schreibt, in dem er "ihr unüberlegtes Unternehmen" hinsichtlich der Testamentsfälschung mit dem Licht der Moral beleuchtet, gelangt er der Ansicht, daß Agathe und er sich zu Haugauer " in einem besonderen Gegensatz ... befänden, den man ungefähr als den von Menschen, die auf eine gute Art schlecht seien, zu einem Manne bezeichnen könne, der auf schlechte Art gut sei" (S.822). Da nach seiner Ansicht moralisches Bemühen für die meisten Menschen sowieso keine Rolle mehr spielt, da "in deren Denken die allgemeinen Worte Gut und Bös überhaupt nicht mehr vorkommen" (ibid.), bleiben moralische Überlegungen nur solchen marginalen "bösguten und gutbösen Menschen überlassen" (ibid.). Schließlich setzt er vermutlich in einer Art Ableitung des kategorischen Imperativs oder aber der zehn biblischen Gebote die Handlungsforderungen "Tu!" und "Tu nicht!" mit Gut und Böse, Glück und Unglück, Tagend und Laster gleich (S.823). Diese gegensätzlichen Begriffe aber, die ihren lebendigen Sinn und damit ihre Wirksamkeit in einer allmählichen Ertarrung verlieren ("ausgelaugt und in Wenn und Aber" zerlegt werden sie) werden sich immer ähnlicher, so daß "schließlich jener wunderliche, aber im Grunde unerträgliche Selbstwiderspruch entsteht ... daß der Unterschied zwischen Gut und Böse alle Bedeutung verliert".

Wie in dem vorangegangenen Beispiel von Diotimas und Ulrichs Unterhaltung handelt es sich auch hier natürlich nicht um rein sprachliche, sondern letzen Endes erkenntnistheoretische Überlegungen. Die Gegensätze von Relativität und Absolutem, gültiger Kenntnis und Nicht-wissen-Können liegen zum Beispiel auch den diametral entgegengesetzten philosophischen Systemen des Idealismus und Materialismus zugrunde (siehe auch Philosophisches Wörterbuch, S.3). Darüberhinaus sind Nichtwissen und Relativität aber auch die Angelpunkte des Skeptizismus, und genau diese Geisteshaltung scheint uns in den zitierten Beispielen gegenwärtig zu sein.

Aber nicht nur bezüglich abstrakter Begriffe, sondern auch in ihrer Wirkung erweisen sich die Worte als relativ. In einem angeregten Gespräch mit Gerda und vor allem mit Ulrich macht Hans Sepp die Erfahrung, daß er mit seinem emotional überladenen Nationalismus und germanisierenden Rassismus nicht die erwünschte Wirkung erreicht: "Er war bald grob, bald flammend. Er fühlte, daß er seine Sache schlecht vorgetragen habe, und machte es der Anwesenheit dieses fremden Mannes (d.h. Ulrich, g.d.) zum Vorwurf, der ein Alleinsein mit Gerda verhinderte, denn, Auge in Auge mit ihr,wären die gleichen Worte ganz anders, schimmernden Wassern, kreisenden Falken gleich in die Höhe gestiegen ..." (S.560). Hier handelt es sich um diesselben Ausdrucksinstrumente, die in verschiedenen Situationen oder, wie hier, durch die spezifische Zusammensetzung eines Gesprächskreises eine unerwartete und völlig unbeabsichtigte Färbung annehmen. Damit beweisen sie wieder ihre Unabhängigkeit und die Ohnmacht ihrer Benutzer.

Was nun die Unzuverlässigkeit der Worte angeht, die im Rahmen des Oberflächlichen, Vaguen, Flüchtigen und Chaotischen zum Ausdruck kommt, scheint eine nominalistische Bewertung des sprachlichen Zeichens maßgebend zu sein. Schon in Platons Dialog Kratylos stehen sich zwei entgegengesetzte Meinungen gegenüber, von der eine die adäquate Widerspiegelung der Sache durch das Wort annimmt, die andere aber eine arbiträre Verbindung von Sache und Wort vertritt. Die letztere entspricht der nominalistischen Einstellung, daß Wörter nur subjektiv motivierte, obwohl konventionell verbindliche Benennungen der Gegenstände darstellen, und daher nicht den Anspruch erheben können, die Wirklichkeit getreu wiederzuspiegeln.

Die Unbestimmtheit und Oberflächlichkeit der Worte kommt besonders gut an einigen satirisch gefärbten Beispielen und einer ernsteren philosophischen Betrachtung zum Ausdruck. Agathes "Herrenbkanntschaft", die sie in Gestalt des Lehrers Lindners an ihrem Selbstmordversuch hindert, polemisiert folgendermaßen gegen die modische "Überschätzung des Persönlichen": "Es wird ja heute so viel von Kultur der Persönlichkeit geredet, von Ausleben und Lebensbejahung. Aber durch solche unklaren und vieldeutigen Worte veraten ihre Bekenner nur, daß sie Nebel brauchen, um den eigentlichen Sinn ihrer Auflehnung zu verhüllen!" (S.968). Ähnlich wird im Zusammenhang mit von Arnheims schriftstellerischem Schaffensdrang gesagt, daß "er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein (läßt), die nur zum geringsten Teil fest, zum größten ein Nebel von Worten" sind (S.391). Nebulös sind auch die großen Worte, die Diotima ihrer Art gemäß in einem Gespräch mit General Stumm gebraucht, und die für diesen zu "der sprachwissenschaftlich nicht ganz durchleuchteten Gruppe der `geschwollenen Worte´ gehör(en)" (S.518). Der Mangel an Gehalt wird also mit letztlich nichtssagenden Worten überdeckt. Ähnlich bemerkt Ulrich, daß Worte einen Kern der Wahrheit "mit ihrem sonderbaren Gespinst (überziehen)" (S.1454), also auch wieder die Realität verschleiern.

Noch gewichtiger wird das Thema in dem Kapitel Mondstrahlen bei Tage von Ulrich behandelt. In den "ruhigeren, ja manchmal fast zerstreuten Gesprächen" mit Agathe spricht er von dem "vertrackten und oft verwünschten Widersinn, ... daß alles Verstehen eine Art von Oberflächlichkeit voraussetzte, einen Hang zur Oberfläche, was sich im Wort `Begreifen´ überdies auspreche und damit zusammenhänge, daß die ursprünglichen Erlebnisse ja nicht einzeln, sondern eines am andern verstanden und dadurch unvermeidlich mehr in die Fläche als in die Tiefe verbunden würden" (S.1089). Anschließend versichert Agathe ein allgemeines Nicht-Wissen-Können, und Ulrich entwickelt eine begriffstheoretische Position, auf die später noch eingegangen werden soll.

Auch in den zwei folgenden wichtigen Beispielen, die den chaotischen und flüchtigen Charakter der Worte illustrieren sollen, geht es um das Verhältnis von Welt und Wort. Als Agathe über ihre etwas ungewöhnlichen moralischen Vorstellungen nachdenkt, kommt sie zu der Ansicht, daß sich die Welt als "eine ungeheure Ordnung, die zuletzt nichts ist als eine ungeheure Absurdität" darstelle (S.1123). Gerade darum gewinnt für sie jede Einzelerscheinung an Bedeutung, "und wenn sie davon sprechen wollte, so geschlah es in dem Bewußtsein, daß sich kein Wort zweimal sagen lasse, ohne seine Bedeutung zu ändern" (ibid.). Hier klingt einmal der heraklitische Grundsatz des panta rhei an, nach dem alles in ständiger Veränderung begriffen ist, so daß ein Mensch nicht zweimal in denselben Fluß steigen kann, weil sowohl der Mensch als auch der Fluß beim zweitenmal nicht mehr dieselben sind wie beim erstenmal; zum anderen fühlt man sich an Wittgensteins Satz erinnert, daß die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in die Sprache sei, sich also je nach Anwendung verändern kann (Wittgenstein, A43).

Als Ulrich über seine Aufgabe in der Welt nachdenkt, findet in ihm eine Art Verdoppelung statt. Der eine Ulrich beobachtet, wie er von seiner Rolle im Leben wenig Gebrauch gemacht hat, weil die ihm gegebenen Stichworte ihm wenig zu sagen hatten. Der andere Ulrich sieht sich den Gefühlen des Schmerzes und Zornes ausgeliefert: "Er war der weniger sichtbare (Ulrich, g.d.), und woran er dachte, war, eine Beschwörungsformel zu finden, einen Griff, den man vielleicht packen könnte, den eigenlichen Geist des Geistes, das fehlende, vielleicht nur kleine Stück, daß den zerbrochenen Kreis schließt. Dieser zweite Ulrich fand keine Worte zu seiner Verfügung. Worte springen wie Affen von Baum zu Baum, aber in dem dunklen Bereich in dem man wurzelt, entbehrt man ihrer freundlichen Vermittlung" (S.155).

Die Worte erweisen sich also auch hier als ungenügende Hilfsmittel. Sie erfüllen ihr Aufgabe, die Wirklichkeit zu kategorisieren, in keinen Weise, und das Versagen ihrer Orientierungs- und Ordnungsfunktion macht sich besonders schmerzlich bei den wichtigsten Fragen des Daseins bemerkbar.

Dennoch wird der systemartige und beruhigend ordnende Charakter der Worte anerkannt, wenn zum Beispiel, wie schon erwähnt, der Gärtner mit seiner Kenntnis der Blumennamen Ordnung in das Chaos der Dinge bringt und damit "der Besitz des richtigen Wortes Schutz vor der ungezähmten Wildheit der Dinge gewährt" (S.1088). Trotzdem wird die Orientierungsfunktion weniger als ideal sondern, einfach als notwendig empfunden: "Und so will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus!" So erklärt Ulrich Agathe den Zusammenhang. Und wie wenig die Wort-Ordnung einer wahrhaften Ordnung gleicht, wird aus der Fortsetzung dieser resignierten Aussage ersichtlich: "Man kommt zuweilen auf den Gedanken, daß alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines alten Ganzen sind, die man einmal falsch ergänzt hat" (S.749). Der Seins-Zusammenhang ist also auseinandergefallen, und die Worte bieten nur die Möglichkeit eines notdürftigen Ersatz-Zusammenhaltes.

Zu einigen einzelnen Wörtern

Bevor wir uns der Sprachthematik zuwenden, wollen wir noch kurz einen Blick auf einzelne Wörter und formelhafte Ausdrücke werfen, die von den verschiedenen Romanpersonen erwähnt werden. Dabei erstaunt es wenig zu erfahren, daß fast alle thematisierten Nomina dem abstrakten und oft moralphilosphischen Bereich angehören. So haben wir folgende Begriffe in expliziter Weise behandelt gefunden: Gott (S..1366), objektiver Geist (S.1119), Willensfreiheit (S.1210), das Wahre (S.104) und die Wahrheit (S.503, 505,1182), Ordnung (S.1236), Einheit (S.391), Weltanschauung (S.1344), Ideen (S.110), Richtbilder (S.1004), Möglichkeit (S.823), und Unsicherheit (S.1244); Genie (S.1106-8); Moral(S.1024, 1036, 1076), Sünde (S.1371), Luxus (S.1064), Pflicht (S.823); Gefühle (S.1275, 1278, 1317), Liebe (S.1134, 1137, 1240, 1256, 1274), und Glück (S.1529). Wo es sich um bezeichnungstheoretische Äusserungen handelt, sind die behandelten Nomina konkret: Wasser (S.113), der Inn (S.995), die Toilette (S.980), und Gabeln (S.1135). Die Adjektiva gehören ebenfalls dem abstrakten Wortschatz an: wesentlich (S.1216), kontemplativ (S.1140), gut und böse (S.823, 748), einfach (S.1262) und verrückt (S.1194) stehen auf unserer Liste. Besonders interessant erscheinen uns die Überlegungen zu den Kunjunktionen und, oder (S.1014) und entweder,/oder (S.1019).

Die formelhaften Ausdrücke sind repräsentiativ für die euphemistische Verschleierung gewisser Gegebenheiten. So ergibt sich Bonadea in wortreichen Umschreibungen für das Phänomen der Impotenz im allgemeinen und der Tuzzis (wie sie es durch Diotima erklärt bekommen hat) im besonderen (S.885). Tuzzi spricht vom allmonatlichen "sich nicht wohlfühlen" seiner Frau (S.802). Dem General ist "übel", wenn er sein Bedürfnis für einen Schnaps ausdrücken will (S.974).

Anhand des "unentbehrliche(n) Satz(es)" Das ist Gefühlsache entwickelt Ulrich im Gespräch mit Agathe eine kleine Theorie vom Notwendigen und Möglichen im menschlichen Leben (S.1023). Agathe verbindet in dem fragmentarischen Kapitel Atemzüge eines Sommertags die vormals im Garten erlebte Entzückung mit dem Begriff des Tausendjährigen Reiches. Dieses "gefühlshelle Wort ... war beinahe faßbar wie ein Ding, blieb aber dem Verstand unklar" (S.1144).

Im Folgenden wollen wir uns damit begnügen, vier ziemlich willkürlich gewählte Beispiele aus der Liste der Einzelwörter näher zu erläutern.

Aus fast allen Erörterungen der erwähnten Wörter ergibt sich, daß Bedeutungen nicht eindeutig sind, und Bezeichnungen nicht der Realität Genüge tun. In diesem Vorverständnis analysiert Ulrich den abstrakten Begriff der Liebe im Vergleich zu dem der Gabeln in einer Art, die einem linguistschen Wortfeldverfahren verblüffend ähnelt , und bei dem den Gebrauchsregeln ebenfalls Ehre angetan wird: "Und das Wort (Liebe) im ganzen umfaßt so viel Widersprüche wie der Sonntag in einer kleinen Landstadt, wo die Bauernburschen um zehn Uhr des Morgens zur Messe gehn, um elf Uhr in einer kleinen Nebengasse das Freudenhaus besuchen und um zwölf am Hauptplatz ins Wirtshaus zum Essen und Trinken eintreten. Hat es Sinn ein solches Wort rund herum zu untersuchen? Aber in dem man es benutzt handelt man unbewußt, als ob man bei allen Unterschieden etwas Gemeinsamem inne wäre!" (S.1134). Nach einer langen Aufzählung der "Spielarten" des Wortgebrauches, die wieder an Wittgensteins Sprachspiel und seine kontextgebundene Bedeutungsauffassung erinnert, und in der dem Spazierstock, der Flasche, dem Spinat und dem Sport ebensoviel Ehre zuteil wird wie Gott, der Wahrheit, der Natur und allen möglichen anderen abstrakten Begriffen, gelangt Ulrich zu dieser Einsicht: "Kurz, es wird fast ebenso vieles mit Liebe verbunden, als es Strebens- und Redensarten gibt. Was ist aber die Unterscheidung und was die Gemeinsamkeit des Liebens?" (S.1135). Damit stellt er die Frage nach den Unterscheidungskriterien der begrifflichen Definition, die heute anhand von semantischen Merkmalen vorgenommen wird, und die im Grunde mit der aristotelischen Gattungs- und Artklassifikation (genus proximum, differentia specifica) zusammenfällt.

Auch der übergeordnete Begriff des Gefühls erlaubt keine befriedigende Erfassung des Phänomens Liebe, sondern eröffnet nur ein ebenso ungenaues Wortfeld: "ein Hangen und Bangen, Sehnen und Sehren, und unbestimmtes Begehren! Seit alters scheint es, daß (die übliche Beschreibung) nichts Genaueres von diesem Zustand zu erzählen weiß" (S.1137). Die unterscheidenden Merkmale ergeben ebenfalls kein klares Bild: "Die Liebe zu einem Freund hat anderen Ursprung und andere Grundzüge als die zu einem Mädchen, die Liebe zu einer voll ausgeblühten andere als die zu einer heilig verschlossenen Frau; und erst recht sind weiter ausenanderliegende Gefühle, wie ... Liebe, Verehrung, Lüsternheit, Hörigkeit ... schon in der Wurzel voneinander verschieden ... Und doch ist kein Gefühl unverwechselbar das, was es zu sein scheint; und weder die Selbstbeobachtung noch die Handlungen, die es bewirkt, geben Sicherheit darüber" (S.1137).

Im Vergleich dazu ist die Bestimmung des Wortes Gabeln ein Kinderspiel weil es ungleich der Liebe "Gegenstand sinnlicher Erkenntnis" ist: "Es gibt Eß-, Mist-, Ast-, Gewehr-, Weg- und andere Gabeln; und allen diesen ist ein bildendes Merkmal `Gabeligsein´ gemeinsam ... Das Gemeinsame ist also eine Form oder Gestalt, und das Unterschiedliche liegt zunächst an den mannigfaltigen Formen, die sie annehment kann" (S.1135).

In seinem Tagebuch versucht Ulrich, Liebe philosophisch zu erfassen, aber auch diese Bemühung bleibt ergebnislos: "Alle diese hinweisenden Rufe fristen ihre Bedeutung bloß davon, daß einer so wenig Wort hält wie der andere. Am ehrlichsten ist das Gefühl ..." (S.1240).

Im Zusammenhang mit "wesentlich leben" (S.1215) erfährt das Adjektiv folgende Definition: "Das Wort kommt wohl aus der Mystik oder Metaphysik und bezeichnet zu allem irdischen friedelosen und zweifelvollen Geschehen; aber seit wir uns vom Himmel getrennt haben, lebt es auf Erden als die Sehenucht, unter tausenden moralischen Überzeugungen die einzige zu finden, die dem Leben einen Sinn ohne Wandel gibt." (S.1216). Es gibt also kein Korrelat zu diesem Wort, und Ulrich findet nur äußerst vage Umschreibungen für das, was er damit meint.

Abschließend seien noch die Kunjunktionen und und oder erwähnt. Ulrichs Vater erläutert seinem Sohn erbost in einem Brief, wie sein langjähriger Kollege und Freund Professor Schwung darauf besteht, in einem Gesetzentwurf zur Unzurechnungsfähigkeit das Wörtchen und mit dem Wörtchen oder zu ersetzen (S.318). In dieser brillanten satirischen Auseinandersetzung erweist sich der scheinbar kleine Unterschied als Träger zweier gegensätzlicher Weltauffassungen, die sich in der Auffassung der Willensfreiheit und damit der Verantwortlichkeit niederschlagen. Ulrichs Vater ist für, Professor Schwung gegen dieses Postulat. Damit vertritt Ulrichs Vater - wenn man dem Philosophische Wörterbuch (S.201-3) Glauben schenken darf - einen idealistischen, Professor Schwung aber einen eher realistiachen (oder marxistischen) Standpunkt. Ulrichs Vater wettert denn auch gegen eine "sich fälschlich Humanität nennende Rechtsunsicherheit" (S.317) und eine "unheilvolle Verweichlichung der Rechtspflege", gegen die zu wehren er sich zur Aufgabe macht. Nicht nur werden die beiden Herren über die Implikationen der richtigen Konjunktion zu erbitterten Feinden, sondern die scheinbar lächerliche Haarspalterei erweist am Falle Moosbrugger ihre hier noch unerwartete Tragweite. Da geht es nämlich um seinen Kopf, und im Kapital Moosbrugger im Irrenhaus wird der Sexualverbrecher beim Kartenspiel mit einem Arzt, einem Sachverständigen, und einem Priester in Hinblick auf seine Zurechnungsfähigkeit beobachtet. Clarisse kommt es sehr treffend "wie ein würdeloses Spiel von Teufeln mit einer Seele vor" (S.1393).

Zum Thema Bedeutung

In allgemeinerer Hinsicht entspricht die Fragestellung nach der Bedeutung der semasiololgischen, die nach der Bezeichnung der onomasiologischen Sprachuntersuchung. Beide Gesichtspunkte ergeben wieder ein Bild vom Unvermögen der Sprache.

Zweimal mindestens ist von Bedeutung in nichtsprachlicher, sondern existentieller Weise die Rede. Beidemale ergibt sich aber indirekt ein negativer Vergleich mit der sprachlichen Realität, und diese Gegenüberstellung von Wirklichkeit und sprachlicher Brechung scheint uns ein durchgäng wichtiges Thema in diesem Romans zu sein.

Als Ulrich und Agathe sich am Morgen einer verwirrenden körperlichen Annäherung wiedersehen, wird ihre Reaktion mit einem unerwarteten Eindruck "in der frei zerstreuten Natur" verglichen: "Da erhebt sich unvermutet in sinnlicher Verwirklichung eine Insel der Bedeutung , eine Erhöhung und Verdichtung des Geistes aus der flüssigen Niederung des Daseins!" (S.1087). Ähnlich weist in Ulrichs Überlegungen über Bedeutung der Wortsinn auf eine grundlegende Rechtfertigung des Daseins: "Etwas gibt im menschlichen Leben dem Glück die Kürze ... Dieses Etwas ist gleichbedeutend damit, daß wir mit all dem Geist, den wir hervorbringen, nichts Rechtes anzufangen wissen, es bewirkt auch, daß wir ... alles in allem keinen Zweck darin sehen. Dieses Etwas ist: daß wir immer aus dem Zustand der Bedeutung in das an und für sich Bedeutungslose hinaustreten, um da hinein Bedeutung zu bringen" (S.1213-14). Richtig vermutet Ulrich, daß hier Bedeutung mit "(dem) Bedeutende(n)" gleichzusetzen ist (ibid.). Und nach weiteren Überlegungen, seine Situation mit Agathe betreffend, sagt er: "Und so habe ich eben wieder `Bedeutung´ geschrieben, und das Wort steht gut und natürlich in seinem Zusammenhang, ohne daß es mir bisher gelungen wäre, seinen Inhalt herauszuschälen" (S.1214).

Während der äußerlich belanglosen, aber gefühlsmäßig überaus intensiven Liebesbeziehung zu der "Frau Major" erlebt Ulrich, wie der "Unterschied zwischen den Dingen geringer wurde. Um das ganz nüchtern auszudrücken, diese Unterschiede werden sich wohl weder verloren noch verringert haben, aber die Bedeutung fiel von ihnen ab, man war `keinen Scheidungen des Menschentums mehr untertan´, genau so wie es die von der Mysitk der Liebe ergriffenen Gottgläubigen beschrieben haben" (S.125). Hier wird den begrifflichen oder sprachlichen Bedeutungen eine Trennungsaufgabe unterstellt, deren Aufhebung als eindeutiger Gewinn bewertet wird.

Als Agathe versucht, sich Ulrichs Satz von nur guthandelnden, aber deshalb noch nicht guten Menschen im Zusammenhang mit ihrem Mann Hagauer zu vergegenwärtigen, erscheint ihr diese Äußerung als unsinnig: "Sie versuchte die Wörte anders zu stellen und tauschte sie gegen ähnliche um; aber da zeigte sich nun doch, daß der erste Satz der richtige war, denn die anderen waren wie in den Wind gesprochen und es blieb gar nichts von ihnen zurück" (S.729). Obwohl also Ulrichs Satz Unsinn ist, erinnert sie sich deutlich daran, daß "diese Behauptung, ohne daß sie dabei mehr Inhalt gehabt hätte, wunderbar " gewesen war, als Ulrich sie aussprach. Was also im sprachlichen Zusammenhang dem Verstand nicht standhält, kann durchaus einen tieferen und vielleicht wichtigeren Sinn haben.

Auch Walter, als er von der Menschenmenge bei einer Demonstration wörtlich fortgerissen wird, reflektiert über die Bedeutung von dem rauschähnlichen "außer sich sein", die dieser eigenständigen Bewegungsmacht anhaftet: "Und obwohl dieses `Außer sich geraten´ nur in jenem abgeschwächten Wortsinn zu verstehen war, der eine sehr gewöhnliche leichte Erregung bedeutet, spürte man doch darin eine ferne Verwandtschaft mit vergessenen Zuständen der Verzückung und Verklärung ..." (S.626). Die landläufige Bedeutung der Redewendung hat also durch ständige Abnützung ihren ursprünglichen Sinn soweit verloren, daß nur noch eine ungenaue Vorstellung von dem eigentlichen Zustand möglich ist. Das erinnert an Clarissens Kritik an der Verflachung und Entleerung der gängigen Wortbedeutungen.

Für den Sektionschef Tuzzi bildet die Bedeutung von Seele ein ernsthaftes Problem. Er bittet Ulrich ratlos, ihm die Verbindung von Seele mit Mann zu erläutern. Er kennt das Wort nur im Zusammenhang mit "einer Seele von einem Menschen", wo es "einen treuen, pflichtgeduldigen Kerl" bedeutet; oder aber als Eigenschaft von Frauen, wo "es dann ungefähr soviel (ist) wie daß sie leichter weinen als Männer und leichter rot werden" (S.803). Bis zu einer gewissen Verunsicherung durch Diotimas Seelenflug mit von Arnheim gehört Tuzzi zu den einfacheren Gestalten im Roman, für die die Dinge und Worte einen festen Platz haben. Anders geht es natürllich Ulrich, der an sich gerade keine festen Eigenschaften erkennen kann, und sich darum in einem Leben der Möglichkeiten zurechtzufinden sucht. In einem sehr aufschlußreichen Kapitel über den "Essayismus" erläutert Ulrich die Unbestimmtheit der Dinge und letztlich auch der Worte: "Alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen ..." (S.250). Wieder erinnert das an Heraklits panta rhei; auch der Mach'sche Atomismus scheint uns hier und im folgenden Funktionsbegriff gegenwartig zu sein. Beides ist Ausdruck eines intensiven Relativitätsbewußtseins. "Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders geschaffenen Ganzen, dem sie angehörten ... Alle moralischen Ereignisse (fanden) in einem Kraftfeld statt, dessen Konstellation sie mit Sinn belud, und sie enthielten das Gute und das Böse wie ein Atom chemische Verbindungsmöglichkeiten enthält. Sie waren gewissermaßen das, was sie wurden, und so wie das eine Wort Hart, je nachdem, ob die Härte mit Liebe, Rohheit, Eifer oder Strenge zusammenhängt, vier ganz verschiedene Wesenheiten bezeichnet, erschienen ihm alle moralischen Geschehnisse in ihrer Bedeutung als die abhängige Funktion anderer. Es entstand auf diese Weise ein unendliches System von Zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab" (S.250-251).

Die Unbestimmtheit der Wortbedeutung erweist sich hier als notwendiges Prinzip: sie muß einer Vielzahl von Situationen genüge tun, und muß daher auf Kosten der Eindeutigkeit flexibel sein.

Die Mehrdeutigkeit, oder Polysemie, der Wortbedeutung ist aber normalerweise einer der Hauptvorwürfe gegenüber dem sprachlichen Ungenügen. So reflektiert Ulrich im Zusammenhang mit dem Genie-Begriff folgendermaßen über den polysemen Charakter von Bedeutung: "Schon die Worte Bedeutung und bedeutend sind wie alle, die viel benutzt werden, mehrsinnig. Einesteils sind sie mit den Begriffen des Denkens und Erkennens verbunden. Etwas bedeute etwas oder habe diese Bedeutung, besagt, daß es darauf hinweise, es zu verstehen gebe, anzeige, in bestimmten Fällen oder gar schlechthin zu vertreten vermöge, daß es das gleiche sei wie etwas anderes oder unter den gleichen Begriff falle und als dieses andere zu erkennen und aufzufassen sei. Allemal ist das eine vom Verstand erfaßbare und sein Wesen angehende Beziehung; und natürlich kann auf diese Art alles und jedes etwas bedeuten, wie es denn auch bedeutet werden kann.Andernteils gibt es das Wort Etwas bedeuten aber auch in dem Gebrauch, daß etwas Bedeutung habe oder von Bedeutung sei. Nicht nur ein Gedanke kann von Bedeutung sein, sondern auch eine Tat, ein Werk, eine Persönlichkeit, eine Stellung, eine Tugend, und selbst eine einzelne Gemütseigenschaft. Der Unterschied gegen das andere Bedeuten ist dann der, daß dem Bedeutenden noch besonders ein Rang und Wert zugeschrieben wird. Etwas bedeuten heißt in diesem Sinn, es sei bedeutender als anderes, oder schlechthin, es sei ungewöhnlich bedeutend. Wonach wird das entschieden?" (S.1118-19). Ulrichs Antwaort darauf lautet, daß es eine Hierarchie gebe, die von dem (hegel'schen?) "objektiven Geist" bestimmt werde. Dieser Geist wird wenig später sodefiniert, daß er "alles ... was der Mensch gedacht, geträumt, gewollt" habe beinhaltet (S.1119).

Daß die Worte wegen ihre Bedeutungsvagheit ihr Ziel des eindeutigen Ausdrucks verfehlen, ergibt sich auch in einer zeitlich gefärbten Metapher: "Aber sobald (Ulrich) jetzt etwas sagte, das allgemeine Bedeutung haben mochte, hatte er die Empfindung, daß solch Worte um eineige Tage zu spät aus seinem Munde kämen" (S.1122).

Aber nicht nur ihre Vieldeutigkeit, sondern auch die hermeneutische Unsicherheit stellt die Bedeutung in ein kritisches Licht. In einem Gespräch mit dem General Stumm beschreibt Ulrich zum Beispiel, was mit der wichtigen Idee "eines bedeutenden Mannes" passiert: "Sie (wird) sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunäächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihren passen, und verzerren den Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit" (S.380). Daß diese Bedeutungs-Vielfalt mit Relativität und typisch skeptischem Gedankengut zusammenhängt, ergibt sich aus der zusammenfassenden Folgerung: "Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und wenn du willst, zwanzig, die dagegen sind" (ibid.). Genau dieses Argument bestimmt den Skeptiker Aenesidemus zur Urteilsenthaltung und damit zur Ablehnung absoluter Ideen.

Grundsätzlich ist die Vieldeutigkeit und Relativität der Bedeutung, die hier im Zusammenhang mit Gefühl erläutert wird, "in einem doppelten Sprachgebrauch" verankert: "Denn wir sagen sowohl, daß wir etwas für schrecklich, lieblich und anderes hielten, und betonen damit, daß die Gefühle von der Person abhängen, als wir auch sagen, daß etwas schrecklich, lieblich und anderes sei, und von dem Schrecklichen und dem Lieblichen sprechen, womit wir betonen, daß der Ursprung unserer Gefühle wie eine Eigenschaft in den Dingen und Geschehnissen wurzle. Diese Zweiseitigkeit, ja amphibische Zweideutigkeit unterstüzt den Gedanken, daß sie nicht nur im Innern, sondern auch in der äußeren Welt zu beobachten sind" (S.1278).

Für Clarisse hängt Zweideutigkeit mit einer nur intuitiv erfaßbaren Realität zusammen, was sie in einer Auseinandersetzung mit Meingast nicht ausdrücken kann: "Aber Clarisse brachte nun nicht mehr hervor, was sie soeben noch hatte sagen wollen, obwohl es ihr klar zutage lag. Die Doppelworte waren Zeichen (für eine doppelte Wirklichkeit), verstreut in der Sprache wie Äste, die man knickt ... um einen heimlichen Weg finden zu lassen. Es wiesen `Lustmord´ und `Anziehen´ ... und viele, vielleicht sogar alle anderen Worte ... auf zwei Bedeutungen, von denen die eine geheim und persönlich war" (S.922).

Zum Thema Bezeichnung

Wenn wir uns nun dem der Bedeutung komplementär zugeordneten Begriff der Bezeichnung zuwenden, so ist vielleicht noch deutlicher erkennbar, daß auch sie sich als inadäquat erweist.

Ein relativ einfaches Beispiel für die unzureichende Benennung einer Sache liefert der Name der Krankheit, die Agathes ersten Mann nach kurzer Ehe dahingerafft hatte: "Die Ärzte nannten das Typhus, und Agathe sprach es ihnen nach und fand darin einen Schein von Ordnung, denn das war nun die zum Weltgebrauch platt geschliffene Seite des Geschehnisses; aber auf der unabgeschliffenen war dieses anders" (S.756). Ihr Verhältnis zu diesem Mann beschreibt sie als das Ende ihrer Vereinsamung und damit Selbstfindung, und urteilt mit kritischer Distanz zur sprachlichen Ausdruckskraft: "Das ließ sich nun also Liebe nennen" (ibid.). Aber "Agathe ... hatte noch gar nicht gewußt, ob sie ihren Gefährten oder etwas anderes liebe, als schon das kam, was in der Sprache unbeschienener Welt Infektionskrankheit hieß. Es war ein urplötzlich hereinbrechender Sturm von Grauen..."; er bedeutet die Vernichtung ihrer Gefühle und den Verlust des eben gefundenen "Sinn ihres Daseins" (S.757). Ob wie hier ein trockener Begriff nicht einmal annähernd die damit verbundene Realität widerspiegeln kann, oder ob sich wie in Ulrichs Beschreibung der mystischen Erhebung "das Feuer und die Festigkeit seiner Sprache ... von ihrem zarten und schwibenden Inhalt metallen (abheben)" (S.751), immer besteht ein deutliches Mißverhältnis zwischen dem Gesagten und dem Bezeichneten.

Daß die Aufgabe der sprachlichen Begriffe, Ordnung in einer chaotisch erscheinenden Welt zu schaffen, nicht oder nur sehr mangelhaft erfüllt wird, wird auch aus den folgenden Beispielen ersichtlich. Ungleich der Meinung des Generals, daß mangelnde Ordnung nur im "Zivilgerede" zu finden (sei S.1106), besteht Ulrich auf grundsätzlichem Versagen: "Zwischen wieviel Vorstellungen schwankt und schwebt nicht schon ein so einfacher Begriff wie der von der Männlichkeit! Das ist wie ein Hauch, der mit jedem Atemzug seine Gestalt ändert, und nichts ist fest, kein Eindruck und keine Ordnung" (S.574).Umgekehrt erläutert "der Zweifler" Doktor Friedenthal Clarisse, daß einer Gegebenheit viele Bezeichnungen zugeordnet sind: "So haben wir von der gleichen Sache die verschiedensten Begriffe. Zusammengefaßt ist das höchstens im Konversationslexikon. Und ich wette, daß nicht nur ich und der Pfarrer, sonden auch Sie und ... Ihr Gatte ... von jedem Wort, das wir dorf aufschlügen, jeder nur eine Ecke des Inhalts und natürlich jeder eine andere kennten" (S.1401). Er führt das auf die getrennt verlaufene Entwicklung der einzelnen Wissenschaften zurück, und deren relative Bedeutung läßt ihn an der Möglichkeit gültiger Erkenntnis zweifeln: "Die Unsicherheit seiner Wissenschsft hatte ihm die Augen geöffnet für die Unsicherheit alles Wissens" (ibid.).

Als die Geschwister sich von der Welt zurückziehen, wird ihnen besonders deutlich, daß jeglicher Aspekt des Lebens und der Dinge sein genaues Gegenteil beinhaltet. "Dieses Aneinanderhaften der Ehr- und Kehrseite des Lebens ist denn auch sehr verschieden beurteilt worden ... Wer vorsichtig denkt, sagt einfach, die Welt sei nicht geschaffen, um menschlichen Begriffen zu entsprechen. Man hat es ... als Unvollkommenheit der Welt oder der menschlichen Vorstellungen angesehen, hat es ebensowohl kindlich-traulich wie schwermütig oder trotzig-gleichgültig hingenommen, und alles in allem kann es mehr als Temperamentssache denn als nüchtern ehrbare Aufgabe der Vernunft gelten, darüber zu entscheiden. Nun aber, so gewiß die Welt nicht geschaffen ist, um menschlichen Forderungen zu entsprechen, so gewiss sind die menschlichen Begriffe geschaffen, um der Welt zu entsprechen, denn das ist ihre Aufgabe; und warum sie es gerade im Bereich des Rechten und Schönen nie zuwege bringen, bleibt damit schließlich doch eine seltsam offene Frage" (S.1097). Einer der Gründe für das Ungenügen der Begriffe liegt an ihrer abstrahierenden und verallgemeinernden Beschaffenheit: "Ulrich lachte über die Bereitwilligkeit seiner Schwester, dem Wissen gleich die Ehre ganz abzuschneiden (Agathe hatte soeben die Unmöglichkeit aller Erkenntnis mit dem wunderbaren Gleichnis von einem Spiegel im Dunkeln dargestellt, g.d.); er meinte beiweitem nicht, daß Begriffe keinen Wert hätten, und wußte wohl, was sie leisten, auch wenn er nicht gerade so tat. Was er ausheben wollte, war das Unfaßbare der Einzelerlebnisse" (S.1090). In echt Mach'scher Art unterstreicht er dann die funktionalen Zusammenhänge des Daseins auf diese Weise: "Das Ich erfaßt ja seine Eindrücke ... niemals einzeln, sondern immer in Zusammenhängen, in wirklicher oder gedachter, ähnlicher oder unähnlicher Übereinstimmung mit anderem; so lehnt alles, was Namen hat, aneinander in Hinsichten, in Fluchten, als Glied von großen und unüberblickbaren Gesamtheiten, eins auf das andere gestützt und von gemeinsamen Spannungen durchzogen. Aber darum steht man auch ... wenn ... diese Zusammenhänge versagen ..., allsogleich wieder vor der unbeschreiblichen und unmenschlichen, ja vor der widerrufenen und formlosen Schöpfung" (S.1090).

Andererseits kann ein solches "Versagen der Zusammenhänge" ein positiv aufzufassendes Ineinanderfließen von Bewußtsein und Dingen bedeuten. Dann handelt es sich um eine direkte und intuitive Erfassung der Realität, wie sie im Zusammenhang mit James Joyce als Epiphanie bezeichnet worden ist (Ziolkowski, S.606). Auch Hofmannsthals Lord Chandos und Musils Clarisse und Agathe erleben einen solchen Zustand der mystischen Offenbarung, und ähnlich beschreibt ihn auch Ulrich: "Irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt. Nichts Eßbares grast dann mehr; nichts Malbares; nichts verspert dir den Weg. Du kannst nicht einmal mehr die Worte grasen oder weiden bilden, weil dazu eine Menge zweckvoller, nützlicher Vorstellungen gehört, die du auf einmal verloren hast. Was auf der Bildfläche bleibt, könnte man am ehesten ein Gewoge von Empfindungen nennen ... Und natürlich ist auch keine `Bildfläche´ mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über" (S.762). Abgesehen aber von solchen mystischen Einheitserlebnissen bedeutet das Auseinanderfallen von Wort und Sache eine Katastrophe.

Daß nicht nur die Sprache in Zusammenhängen funktioniert und von daher eine wenn auch sehr unvollkommene pragmatische Notwendigkeit darstellt, findet man in dem folgenden Beispiel bestätigt: "Nun sind gar die Bilder, die wir uns im Leben machen, um richtig handeln und fühlen zu können ... nicht bloß vom Verstand abhängig, ja oft sind sie höchst unverständige und nach seinen Maßen unähnlic;he Bilder; und doch müssen sie ihren Dienst erfüllen, damit wir in Übereinstimmung milt der Wirklichkeit und uns selbst bleiben. Sie müssen also nach irgendeinem Bildschlüssel oder irgendeiner Gebrauchsanweisung und gemäß dem Begriff, der die Art der Abbildung bestimmt, auch genau und vollständig sein, selbst wenn dieser Begriff Raum für verschiedene Ausführungen läßt" (S.1156). Ulrich führt dann aus, wie Bild, Name und Sache ursprünglich deckungsgleich waren und sich erst "im Lauf der Zeit" auseinanderentwickelt haben, so daß schließlich nur noch ein Ähnlichkeitsverhältnis vorwaltet. Als Bespeil dafür gibt er, daß er Agathe anders vor seinem geistigen Auge sieht als ein Porträtmaler: "...mir ist eher, als hättest du in ein Wasser geblickt und ich bemühte mich vergeblich, darin mit dem Finger dein Bild nachzuzeichnen" (S.1157). Die Abbildfunktion des Verstandes und der Sprache versagt gleichermaßen dann, wenn es sich um etwas Wichtiges handelt, so daß " man nur gleichgültiges richtig und ähnlich sieht" (ibid.).

Das Verhältnis von Bedeutung und Bezeichnung zur Wirklichkeit ergibt sich aus einer regelrechten Begriffstheorie, die Ulrich im Gespräch mit Agathe darlegt. Zuerst betont er wieder das Primat des Gebrauchs: "Denn was etwas an und für sich bedeute oder sei, setzte er gleich dem Ergebnis, das aus den Bedeutungen zusammenwächst, die ihm unter allen möglichen Umständen zukommen können" (S.1119). Damit stößt er wieder auf das Urprinzip der Relativität: "Man hat das aber bloß anders auszudrücken und hat bloß zu sagen, an und für sich wäre dann etwas gerade das, was es nie an und für sich, vielmehr je in Bezug auf seine Umstände sei, und ebenso auch, daß seine Bedeutung alles sei, was es bedeuten könne; man hat den Ausdruck also nur auf die Spitze zu stellen, damit sogleich der Zweifel deutlich werde, der daran hängt. Denn natürlich ist es üblich, im Gegenteil vorauszusetzen, und wenn selbst nur aus sprachlicher Gepflogenheit, was etwas an und für sich sei, oder denn auch bedeute, bilde den Ursprung und Kern alles dessen, was sich in wechselnden Beziehungen von ihm aussagen läßt. Es war darum eine besondere Auffassung vom Wesen des Begriffs und des Bedeutens, von der sich Ulrich hatte führen lassen; und sie könnte ... ungefähr so angegeben werden: Was immer unter dem Wesen des Begriffs von einer logischen Theorie verstanden werde, als Begriff von etwas ist er im Gebrauch nichts als der Gegenwert und die aufgespeicherte Bereitschaft zu allen wahren Aussagen zu diesem Etwas, die möglich sind. Dieser Grundsatz, der das Verfahren der Logik umkehrt, ist `empiristisch´ ..." (S.1120). Es scheint sich hier wieder um eine Auffassung zu handeln, die einen arbiträren Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit befürwortet; und eine starre "natürliche" Verbindung von Begriff und Sache als irrelevant erklärt. Es sei hier weiterhin vermerkt, daß diese Auffassung des möglichen anstelle des absoluten Seins auch bezüglich des Ich, insbesondere des Mann ohne Eigenschaften Ulrich, maßgebend ist, so daß Claudio Magis völlig zu recht behauptet, daß "das Problem des (sprachlichen) Zeichens ... für Musil immer mit dem Problem des Ich zusammen(fällt)" (S.187). Noch allgemeiner könnte man behaupten, daß die sprachlichen Mittel nur eines der unzulänglichen Werkzeuge des Menschen zur Artikulation und Bewältigung einer chaotischen, ständig wechselnden Realität darstellen, und das dieses Ordnungsbedürfnis wegen der mangelnden Erkenntnissicherheit, ob diese nun sinnlich, rational, oder sprachlich fundiert ist, zum Scheitern verurteilt ist.

Für einige Protagonisten des Romans ist die Sprache ein durchaus hinreichendes Mittel der Wirklichkeitsbewältigung, obwohl sie von anderen mit einem Gefängnis (Clarisse, S.660) oder mit einem Netz (Ulrich und Agathe, S.1363) verglichen wird. So findet sich Diotima erfolgreich in den sozial bedingten Erwartungen zurecht, in dem sie unreflektiert Unterhaltung betreibt (S.98); von Arnheim betrachtet seine schriftstellerische Tätigkeit als Kompromiß zwischen den Weltgeschäften, der Politik und seinen humanistischen Neigungen, was aller dings an eine gewisse "Spaltung des Bewußtseins" gebunden ist (S.391). Trotzdem erscheinen ihm die Dinge dadurch "in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung" (ibid.).

Er stellt das immer satirisch beleuchtete Beispiel für den pragmatisch orientierten Erfolgsmenschen dar, der sich durch die tieferen Fragen nach Sinn und Bedeutung seines Lebens oder des Daseins nicht im geringsten aus dem Geleise bringen läßt, der im Gegenteil solche Fragen und allgemein intellektuelle Interessen erfolgreich von den geschäftlichen oder politischen Anforderungen zu trennen weiß, und der gerade darum als allseits gerundetes Individuum in allen Kreisen bewundert wird, obwohl es solch einem Hans Dampf in allen Gassen doch offensichtlich irgendwo an Tiefgang fehlen muß. Für den tat-orientierten Tuzzi ist denn auch von Arnheims schriftstellerische Tätigkeit mit "schwätzen" gleichzusetzen: "In den Stunden, die (Tuzzi) die wichtigen Sorgen seines Dienstes freiließen, studierte er Arnheims Schriften und haßte Männer, die schreiben, als die Ursache seines Leiden. Denn das war eine Frage, zu der sich die Hauptfrage, aus welchem Grunde Arnheim in seinem Hause verkehre, jetzt zuweilen zuspitzte: warum schrieb Arnheim? Schreiben ist eine besondere Form des Schwätzens, und schwätzende Männer waren Tuzzi unaustehlich" (S.335).

Auch für den Bankdirektor Fischel bedeutet Sprechen eine notwendige und regelmäßig anzuwendende Form der Daseinsbewältigung: "Leo Fischel liebte es, das Leben als vernünftig begründet zu erkennen und täglich ein wenig darüber zu sprechen; ein in der Volkswirtschaft schaffender Mensch erübrigt aber nicht viel Zeit dafür, und Widerspruch ist für ihn so viel wie ein Raubanfall" (S.1446-47).

Hier handelt es sich also um eine Gegenüberstellung von Handeln und Sprechen, bei der das erstere einen wenn auch zweifelhaften Vorrang genießt. Ähnlich lautet eine Folgerung Ulrichs aus dem fragmentarischen Kapitel Nachtgesprach: "Das gewöhnliche Leben, das kraftvoll und tätig dahinstreicht, säumt nicht bei Überlegungen. Man fühlt, um zu handeln; und über ein solches allerwegen benutztes Verkehrs- un Fortbewegungsmittel denkt niemand nach. Es mißachtet darum auch alle Gefühle, die nicht nach Maß-Art durchschnittlich und vorgeschrieben sind ... und seine Gefühle zu zerfasern gilt im Leben als schwächlich. Spricht man aber von seinem Gefühl, was trotzdem sehr oft geschieht, so spricht man es `aus´; man spricht fühlend davon, man sagt (aus), was und wie man fühlt, also daß die auf die Gefühle gerichtete Aufmerksamkeit ... und wo immer sie sich einstell(t), eigentlich schon eine Störung des natürlichen Fühlens anzeigen" (S.1321-22).

Zu einigen Fach- und Sondersprachen

Abgesehen von den Romanfiguren, für die Sprache nichts als ein mehr oder weniger notwendiges Hilfsmittel der Daseinsbewältigung bedeutet, ergibt sich das Problem der verschiedenen sprachlichen Untergruppen, die von sehr spezialisierten Fachsprachen und anderen Sondergruppen dargestellt werden können.

Diese Sondersprachen haben eine trennende Wirkung, weil sie nicht allgemein verständlich sind, und das natürlich auch gar nicht sein wollen. Damit einhergehend ist die erkenntnistheoretische Beobachtung, daß man, je mehr man sich mit einer Sache befaßt, umsomehr seiner mangelnden Kenntnisse gewahr wird. Diotima drückt eben diese Erfahrung im Zusammenhang mit ihren kulturellen Abenden so aus: "Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von Zweifeln und Möglichkeiten auf" (S.102). Ebenso bemerkt sie, daß kaum je zwei ihrer gelehrten Gäste "sachlich und vernünftig" miteinander sprechen können, ein Problem, das mit "dem bekannten Leiden ... Zivilisation" erklärt wird: "Es ist ein hinderlicher Zustand, voll von Seife, drahtlosen Wellen, der anmaßenden Zeichensprache mathematischer und chemischer Formeln ... und der Unfähigkeit zu einem einfachen ... Beisammensein der Menschen" (S.103).

Äußerst aufschlußreich erläutert Ulrich am Beispiel von Wasser, wie uneinheitlich die verschiedenen Vorstellungen davon sind, was in folgender Überlegung gipfelt: "Schließlich löst sich das Ganze in Systeme von Formeln auf, die untereinander irgendwie zusammenhängen, und es gibt in der weiten Welt nur einige Dutzend Menschen, die selbst von einem so einfachen Ding, wie es Wasser ist, das gleiche denken; alle anderen reden davon in Sprachen, die zwischen heute und einigen tausend Jahren früher irgendwo zu Hause sind" (S.113).

Eine solcher Fachsprachen ist die Mathematik, und für Ulrichs Kollegin Dr. Strastil ist sie die einzige, in der sie sich wohl fühlt, so daß Sprache ganz allgemein ihr besonders unsicher erscheint und als "Urlaubssprache" bezeichnet wird: "Sie wußte, was sie meinte, aber in der gewöhnlichen Sprache, wo die Worte nicht definiert sind, kann sich kein Mensch eindeutig ausdrücken" (S.865). Ulrich, der ebenfalls in dieser Fachsprache heimisch ist, muß feststellen, daß sie ihm entgleitet: "Er hatte in letzter Zeit viel vergessen, was ihm früher geläufig gewesen wäre ...; sogar die scharfen Ausdrücke und Begriffe seines früheren Berufes, die er so oft benutzt hatte, waren ihm nicht mehr gefügig ..." (S.1156).

Dr. Friedenthal liefert ein gutes Beispiel für die wissenschaftliche Zersplitterung anhand der Medizin und der Jura. So erklärt er Clarisse bei ihrem Besuch im Irrenhaus: "Dem Mediziner ist eben alles Medizin, dem Juristen alles Jus! Das Gerichtswesen geht letzten Endes von dem Begriff `Zwang´ aus, der dem gesunden Leben angehört, aber ohne Bedenken meist auch auf Kranke anzuwenden ist. Ebenso ist aber der Begriff `Krankheit´ mit seinen Konsequenzen, von dem wir Ärzte ausgehen, auf das gesunde Leben anwendbar. Das wird niemals unter einen Hut gebracht werden!" (S.1400). Wie schon oben erwähnt, ist Moosbrugger der Zankapfel dieser beiden Disziplinen, und bei der Entscheidung über seine Zurechnungsfähigkeit steht die Frage seiner Existenz im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Spiel. Er ist nicht in der Lage, den Juristen begreiflich zu machen, was in ihm vorgeht, und diese können ihn nicht verstehen (S.238), so daß es sich hier um eine typische Darstellung von Aneinandervorbeireden handelt.

Ähnnlich wie für die Mathematikerin Dr. Stastil ihre fachliche Terminologie verbürgt für den General die Militärspräche Ordnung und Sicherheit. Anläßlich eines Gesprächs mit Seiner Erlaucht über Rasse heißt es: "(Er wußte) genau, was er mit diesen Worten meinte, nicht genau wußte er bloß, was er mit ihnen sagte, denn um solche zivile Worte ist ein Plus wie dicke Handschuhe, in denen man aus einer Schachtel Zündhölzer ein einzelnes zu fassen sucht" (S.1015). In einer eingehenden Unterhaltung mit Agathe über den Geniebegriff, gibt Ulrich die auf einem Wortspiel begründete Auffassung des Generals wieder, "daß der rechte Gebrauch von Genie schließlich noch beim Militär zu finden sein wird und gestaffelt ist, während allem Zivilgerede davon gerade eine solche Ordnung bedauerlicherweise mangle" (S.1106). In der Tat beweisen Ulrichs etymologischen und semantischen Ausführungen über den "zivilen" Geniebegriff, daß dieser seinem militärischen Gegenstück an Klarheit und Griffigkeit hoffnungslos unterlegen ist.

Andere Beispiele für besondere Sprachschichten, diesmal diachronisch gesehen, sind das Amtsdeutsch und die Kirchensprache. Im Zusammenhang mit einem starken, ursprünglichen religiösen Empfinden in der frühen Menschheitsgeschichte erläutet Ulrich seiner Schwester, wie schon die kirchlichen Institutionen das mystische Erleben "niemals ohne Vorbehalt anerkannt" haben und es durch geregeltere Moralvorstellungen zu ersetzen suchten, was ihn an "die Trockenlegung eines Sumpfes" erinnert. Mit dem Verlust religiöser Vorherrschaft geht dann auch eine Verknöcherung der Kirchensprache einher, die die Mystik völlig in den Hintergrund treten läßt: "Und als das kirchliche Geistesregiment ... und sein Wortschatz veralteten, ist man begreiflicherweise dazu gekommen, unseren Zustand (d.h., die Mystik, g.d.) überhaupt nur noch für ein Hirngespinst zu halten" (S.766).

Was das Amtsdeutsch angeht, klaffen die Meinungen über seinen ästhetischen Wert auseinander: Seine Erlaucht liest mit offensichtlichem Genuß einen Erlaß der kaiserlichen Statthalterei in Triest vor, dessen Ton er begeistert mit "würdiger Sprache" umschreibt, und der ihm den folgenden zustimmenden Ausruf entlockt: "So hätte die Regierung immer sprechen sollen!" (S.841). Ulrich dagegen meint, daß trotz des strengen Wortlauts "alles beim alten bleiben wird ... nachdem der Schwanz der kurialen Satzschlange gänzlich in seinem Ohr verschwunden war" (S.842). Dieses Beispiel einer "würdigen" offiziellen Sprache entstammt übrigens einem Zeitungsbericht, und veranschanulicht daher schon eine andere sprachliche Sonderpraxis, die sich im Journalismus niederschlägt. In dem Kapitel Arnheim als Freund der Journalisten, gibt der Erzähler ein geradezu bösartig-satirisches Bild des Zeitungsbetriebes zum Besten, das eng mit einer Art Inflation der sprachlichen Mittel in diesem Milieu zusammenhängt: "Die Welt des Schreibens und des Schreibenmüssens ist voll von großen Worten und Begriffen, die ihre Gegenstände verloren haben. Die Attribute großer Männer und Begeisterungen leben länger als ihre Anlässe, und darum bleiben eine Menge Attribute übrig. Sie sind irgendeinmal ... für einen ... bedeutenden Mann geprägt worden, aber diese Männer sind längst tot, und die überlebenden Begriffe müssen angewendet werden. Deshalb wird immerzu zu den Beiwörtern der Mann gesucht. Die `gewaltige Fülle´ Shakespeares, die `Universalität´ Goethes, die `psychologische Tiefe´ Dostojewskis ... hängen zu Hunderten in den Köpfen der Schreibenden umher, und aus reiner Absatzstockung nennen diese heute schon einen Tennisstrategen abgründig oder einen Modedichter groß" (S.326). Die Verkörperung satirisch beleuchteten Journalistentums ist der Gesellschaftschronist Meseritscher, der unter dem anonym-bescheidenen Pronomen Man Diotimas Salonereignisse der Öffentlichkeit vermittelt. "Lückenlose Präsenzlisten galten als seine Spezialität", heißt es von ihm (S.998). Die modische Dichtergröße Feuermaul nennt ihn den "Homer unserer Zeit" (S.1014), denn "das episch unerschütterliche `Und´, mit dem Sie alle Menschen und Ereignisse aneinanderreihen, hat in meinen Augen etwas ganz Großes!" (ibid.). Zynisch vergleicht der Erzähler das "schlichte, aneinanderreihende `Und´" (S.1015) mit der Unfähigkeit Geistesschwacher, den übergeordneten Begriff einer Gegebenheit zu finden: "... Einem Idioten gewissen Grades (gelingt es) nicht mehr, den Begriff `Eltern´ zu bilden, während ihm die Vorstellung `Vater und Mutter´ noch ganz geläufig ist" (ibid.). Daraus ergibt sich aber nicht nur eine traurige Bilanz für Meseritschers Fähigkeiten, sondern für die Menschheit im allgemeinen: "Es darf behauptet werden, daß sich auch die Welt, unerachtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der Imbezillität verwandten Zustand befindet" (ibid.).

Ein noch bedenklicheres Bild zeichnet eine Reflexion Ulrichs: "Alle Tage schreiben die Zeitungen gewisse ihnen gleichgültige Sätze, mit denen sie herkömmliche Geschehnisse herkömmlich verzeichnen, aber wenn eine Revolution droht oder etwas Neues geschehen soll, zeigt sich mit einemmal, daß die Worte nicht ausreichen ... Bei jeder großen allgemeinen Mobilisierung, sei sie friedlich oder kriegerisch, tritt der Geist unausgerüstet und behangen mit Vergessenheiten an" (S.1497). Damit zeigt sich wieder deutlich die Diskrepanz zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem.

Bevor wir näher auf dieses Mißverhältnis eingehen, kurz noch einige Hinweise auf die sprachlichen Sonderbereiche der Fremdwörter und Modewörter.

Bonadea tut sich schwer mit den Ersteren. So möchte sie das Wort `Kompresse´ anstelle von `Kompensation´ benutzen, als sie Ulrich Diotimas Theorie des männlichen Minderwertigkeitsgefühls gegenüber einer "menschlich gleichwertigen Frau" (S.885-6) ausführt. Im Zusammenhang mit dem Thema der Instinkte "Hunger, Zorn, Freude, Eigenwille oder Liebe" (S.1148) erläutert Ulrich Agathe die "aufbauende" sowie die "störende" Wirkung der Triebe, wobei er zu dem Schluß kommt, daß diese "in der Sprache der Bücher" sich als Polarität zwischen "einem westlichen, abendländischen, faustischen" und einem "orientalish(en) oder asiatisch(en)" Lebensverständnis niederschlagen würden "Er erinnerte sich dieser vornehmen Modeworte. Doch es lag nicht in der Absicht der Geschwister, ... einem Erlebnis, von dem sie tief bewegt waren, durch solche angeflogenen, schlecht verwurzelten Befgriffe eine trügliche Bedeutung zu geben; vielmehr war alles, was sie miteinander sprachen, als wahr und wirklich gemeint mochte es auch wolkenwandlerischen Ursprungs sein" (S.1148).

In Hinblick auf das Gefühl muß Ulrich der Umgangsprache ein wenn auch indirektes Zugeständnis machen: "Das Gefühl drängt nach innen; es `erfaßt den ganzen Menschen´, wie die Umgangssprache nilcht unzutreffend sagt, es verdrängt, was sich nicht zu ihm schickt, und begünstigt, wovon es sich nähren kann" (S.1274). Daraus ergibt sich letztlich die idealistische Grundeinsicht, daß das Bewußtsein welterschaffend ist: "Der Traurige sieht Schwarz und straft mit Nichtachtung, was es aufhellen könnte; dem Heiteren leuchtet die Welt, und er ist nicht imstande, etwas wahrzunehmen, wovon das gestört werden könnte ... Auf diese Art schafft sich jedes Gefühl ... seine eigene Welt" (S.1275).

Zusammenfassend erweisen sich die soeben behandelten Fach- und Sondersprachen oder die untergeordneten Teilbereiche sprachlicher Verständigung sowohl als trennend was die zwischenmenschliche Kommunikation angeht, als auch als unzureichend, was das Verhältnis von Sprache und sprachlich vermittelter Wirklichkeit anbelangt. In scharfem Kontrast zu dieser sprachlich bedingten Vermittlung wichtiger Vorgänge und Gegebenheiten stehen die nicht sprachlich mitteilbaren Möglichkeiten. In einem allgemein semiotischen Zusammenhang handelt es sich dabei um offensichtlich höher zu bewertende ausdrucksstarke Verständigungsarten, wie sie in der künstlerischen Gestaltung - wie Malen, Gedichten, Musik - oder natürlichen Erscheinungsweisen - wie Landschaften, Empfindungen, Gebärden, Blicken oder ganz allgemein Dingen - zum Ausdruck kommen können. Indem wir aus diesem thematischen Arsenal einige repräsentative Beispiele erläutern, werden zum Teil schon die theoretisch bedingten Zusammenhänge des Verhältnisses zwischen Inhalt und Form, Sprache und Wirklichkeit, Sprache und Denken angeschnitten.

Wortlose Sprachen

Wenn man von der Form/Inhalt-Dialektik ausgeht, drückt Sjprache einen Inhalt aus, wobei die äußere und die innere Gliederung in keinem Kongruenzverhältnis stehen. Die allesamt wortlosen Ausdrucksformen, von denen nun die Rede sein soll, sind von vornherein nicht zu allgemeingültiger zwischenmmenschlicher Verständigung bestimmt, sondern vermitteln oft in einmaligen Situationen eine punktuell aufzufassende Bedeutung, die allerdings häufig einer globalen und zeitlosen Wirklichkeitserfassung gleichkommt.

So spricht Ulrich von der bedeutungsschaffenden, interpretierenden Reaktion des Betrachters, der "neue Gebilde" in Kunstwerke "hineinträumt": "Ein Vorgang der sich ... mehrmals wiederholt hat, sowohl um 1900 als man das Andeutende und Skizzenhafte liebte, wie nach 1910 wo man in der Kunst dem Reiz der einfachsten konstruktiven Elemente unteilag und die Geheimnisse der sichtbaren Welt anklingen ließ, indem man eine Art optisches Alphabet aufsagte" (S.1532). Für Walter bedeutet Musik "die einfache, alle Menschen verbindende Sprache des Ewigen" (S.143). Nicht zufällig wird die Musik denn auch in mystisch entrücketen Worten geschildert: sie ist "dieses geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinanderstürzen" (S.144). Es ist ein trauriges Paradox, daß Walter sich bei dem leidenschaftlichen vierhändigen Klavierspielen mit seiner Frau sehr eng verbunden fühlt, denn es handelt sich deutlich um zwei getrennte Ekstasen: "Sie saßen steif und entrückt auf ihren Sesselchen, waren auf nichts und in nichts und über nichts oder jeder auf, in und über etwas anderes zornig, verliebt und traurig, dachten Verschiedenes und meinten jeder das Seine" (S.143).

Auch für den von Nietzsche beeinflußten Philosophen Meingast ist Musik "eine überseelische Erscheinung" (S.1333), und er kann das sogar konkret zur Anschauung bringen: "Das war nun längst nicht mehr bloß Kunst oder ästhetischer Meinungsaustausch, sondern Meingast pfiff metaphysische Beispiele, absolute Gestalten und Erscheinungen aus Tönen, die nur in der Musik vorkommen und sonst nirgends in der Welt. Er pfiff schwebende Kurven oder ungreifbare Bilder, aus Trauer, Zorn, Liebe, Heiterkeit, forderte das Ehepaar (Walter und Clarisse, g.d.) auf zu prüfen, inwieweit es dem gleiche, was man im Leben unter diesem Namen verstehe" (S.1334). Im Gegensatz zur Sprache erfaßt die Musik oder ganz allgemein die Kunst das Wesentliche: "Nehmt Trauer, Größe, Heiterkeit oder was ihr wollt: es ist nur die hohle irdische Bezeichnung für Vorgänge, die weit mächtiger sind als der lächerliche Faden, den unser Verstand von ihnen erfaßt, um sie daran herunterzuziehn. In Wahrheit sind alle unsere Empfindungen unausdrückbar" (S.1335), es sei denn in der Kunst. Das rechtfertigt seine Meinung, daß "die Welt ... nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen (sei)" (S.1337).

Auch Clarisse bedient sich einer künstlerischen Ausdrucksfrm, wenn sie im Endstadium ihres geistigen Zerfalls die Wände ihres Hotelzimmers bemalt: "Was sie schuf, war verzerrt, war wirr gehäuft und doch arm, war zügellos und doch nur einem steifen Zwang gehorchend; äußerlich. Innerlich war es: zum erstenmal der Ausdruck ihres ganzen Wesens; ohne Absicht, ohne Überlegung, fast ohne Wille, unmittelbar etwas Zweites,Bleibendes, Größeres werend, die Transsubstantiation des Menschen zu einem Stück Ewigkeit" (S.1556).

Obwohl es sich nicht gerade um Kunst handelt, reflektiert Ulrich über die Bedeutung von Reklamezeichen: "Die mehrere Meter große Tafel was bedeckt mit Worten. `Eigentlich dürfte man annehmen´, fiel ihm ein, `daß gerade diese Worte, die sich an allen Ecken und Enden der Stadt wiederholen, einen Erkenntniswert haben´." (S.864). Ihre stereotypen Aussagen sind aber außerhalb eines bestimmten lokalen und zeitlichen Kontextes total bedeutungslos.

Ähnlich wie der Sprache der Kunst wird auch der Natur ein der sprachlichen Aussagekraft weitaus überlegenes Mitteilungsvermögen zugestanden. Obwohl Ulrich und Agathe auf ihrer Reise ins Paradies, die neue südliche Umgebung nicht direkt zugänglich ist, können sie eine poetische Qualität in der italienischen Landschaft erkennen: "Sie verstanden nichts in dieser neuen Welt, und alles was wie Worte eines Gedichtes" (S.1407). Auch Clarisse vergleicht Landschaftseindrücke mit Lauten: "Die Kiefernwipfel schwebten auf ihren korallenfarbenen Stämmen als dunkelgrüne Inseln im glühendblauen Meer des Himmels ... Was bedurfte es klebender Sätze, wenn die Natur wie eine tönende Bühne war" (S.1333). Besonders grandiose Naturgegenden vermitteln ebenfalls den Eindruck der Ewigkeit: "Das Meer im Sommer und das Hochgebirge im Herbst sind die zwei schweren Prüfungen der Seele. In ihrem Schweigen liegt eine Musik, die größer ist als alles andere irdische; es gibt eine selige Qual des Unvermögens, nach ihr zu schreiten, den Rhythmus der Gebärden und Worte so weit zu machen, daß er sich in den ihren fügt; mit dem Atem der Götter halten die Menschen nicht Schritt" (S.1410).

Gebärden in einer interkommunikativen Situation können genauso zweideutig wie Worte sein. Clarisse nimmt an, daß der General Stumm von einer Frau schon einmal mit "Du Gott-Mensch" apostrophiert worden ist. "Stumm erinnerte sich nicht daran, aber das wollte er nicht zugeben, darum vollführte er bloß eine Gebärde, die sowohl heißen konnte: leider nein, als auch: das hört man bis zum Überdruß! Und in Worten antwortete er: `Manche Frauen sind ja sehr exaltiert!´" (S.1193). Normalerweise aber erlauben Gebärden keinerlei Zweifel bezüglich ihrer lInterpretation. Als Moosbrugger Rachel brutal mißhandelt, gibt es kein Mißverständnis über die Bedeutung dieser Sprache: "Und Rachel staunt den bösen Geist der Kraft und Roheit an, der alle Worte nichtig macht" (S.1488). Sie kommt schließlich auf den Gedanken, "daß alles in der Welt heimlich auf Schlagen eingerichtet sei ... Die Eltern das Kind. Der Staat die Sträflinge. Das Militär die Soldaten. Der Reiche die Armen. Der Kutscher die Pferde ... Jeder schüchtert den anderen lieber ein, als sich mit ihm zu verständigen" (ibid.).

Wo die Worte versagen, gewinnen nilchtverbale Mittel an Ausdruckswert, wie sich in einer der Geschwister-Szenen zeigt: "Die Unsicherheit glich ... einem Netz, worin sich alle unausgesprochenen Worte gefangen hatten: das Geflecht bog sich wohl auseinander, aber sie vermochten nicht hindurchzubrechen, und in diesem Wortmangel schienen Blicke und Bewegungen weiter zu reichen als sonst, und die Umrisse, Farben und Flächen ein unaufhaltsames Gewicht zu haben" (S.1363).

Die Sprache des Gefühls kennt ebenfalls Eigengesetze, denen oft die mystischen Anklänge einer Sprache des Schweigens anhaften. So ist die seelenvolle Beziehung zwischen Diotima und von Arnheim solcher art, daß sie aller Worte entbehren kann. Diotimas Mann drückt diesen Sachverhalt Ulrich gegenüber folgendermaßen aus: "Unter Männern bringt man so etwas nicht über die Lippen. Wenn Sie aber Seele hätten, würden Sie jetzt meine Seele einfach betrachten und bewundern. Wir würden in eine Höhe gelangen, wo es keine Gedanken, Worte und Taten gibt. Dagegen Geheimnisvolle Mächte und erschüttertes Schweigen" (S.805). An einer anderen Stelle bezeichnet Ulrich diesen Höhenflug als "eine Art Schmetterlingssprache" (S.807), und verdächtigt von Arnheim sowohl, "sich mit diesem hauchdünnen Nektar einen Bauch anzusaufen", als auch "seine Seele gleich einer Brieftasche am Busen zu tragen" (ibid.).

Ernstzunehmender sind Ulrichs Ausführungen über das wortlose Erfassen der Realität in der Liebe: "Man versteht in diesem Zustand ... alles, weil die Seele nur das annimmt, was zu ihr gehört; in gewissem Sinne weiß sie alles schon vorher, was sie erfahren wird. Liebende können sich keine Neuigkeiten sagen; es gibt auch kein Erkennen für sie" (S.558). Selbst leblose Dinge werden von Liebenden in mystisch-intuitiver Weise erfaßt, als ob "ein Schleier fällt oder eine Grenze aufgehoben wird, die der wahrnehmbaren Welt nicht angehören ... Die Natur und der eigentümliche Geist der Liebenden blicken einander in die Augen; es sind zwei Richtungen der gleichen Handlung und ein Brennen von zwei Enden" (ibid.). Derselbe Gedanke kommt bezüglich Agathes und Ulrichs enger Beziehung vor: "Es war allerdings eine merkwürdig kernlose, nlur halbgreifliche Wirklichkeit, deren sie sich gegenwärtig fühlten ...: keine Allerweltswirklichkeit und Wahrheit für alle Welt, sondern eben bloß eine geheime für Liebende. Aber offenbar war sie auch nicht bloß Willkur und Täuschung; und ihre geheimste Einflüsterung sprach: Du hast dich mir bloß ohne Mißtrauen zu überlassen, so wirst du die ganze Wahrheit erfahren! Schwer war es aber, das in deutlichen Worten zu hören; denn die Sprache der Liebe ist eine Geheimsprache, und in ihrer höchsten Vollendung so schweigsam wie eine Umarmung" (S.1127). Sehr ähnlich ist der wortlose Einklang des Kindes mit der Welt, den Ulrich mit dem Zusammenfallen von Innen und Außen umschreibt, und der mit zunehmender Bewußtwerdung einer Trennung dieser beiden Bereiche weicht (S.902).

Die Sprache der Dinge schließlich kann ebenfalls wortloses und mystisch-intensives Welterfassen bewirken. Ganz ähnlich wie für Hofmannsthals Lord Chandos unscheinbare Objekte zum Schlüssel der Welt werden, oder wie für Leibniz ein Wassertropfen das Universum spiegelt (Mülher, S.205), beschreibt Ulrich, wie "das Spiel irgendeines Dings" ein intuitives Einheitsgefühl hervorruft: "Mit einemmal wird man von seinem kleinwenigen Sein wie eine Feder getragen, die aller Schwere und Kräfte bar im Wind fliegt ... es ist dem ähnlich, daß man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles" (S.751). Agathe ergänzt: "Man vergißt manchmal das Sehen und Hören, und das Sprechen vergeht einem ganz. Und doch fühlt man gerade in solchen Minuten, daß man für einen Augenblick zu sich gekommen ist" (ibid.). Wenig später spricht Ulrich von den Mystikern und deren Einheitserleben: "Denn von diesem Augenblick an erzählen sie uns natürlich nicht mehr ihre schwer beschreiblichen Wahrnehmungen, in denen es keine Haupt- und keine Tätigkeitsworte gibt ... Und so kommen sie zu diesen Aussagen, daß ihnen die Seele aus dem Leib gezogen und in den Herrn versenkt werde, oder daß der Herr in sie eindringe wie ein Liebhaber" (S.754).

Für alle diese sprachlosen Ausdrucksarten gilt, daß von der Inhalt-Form- Beziehung die Formseite zugunsten der Inhaltsseite aufgehoben wird. Im Grenzbereich stärkster Empfindungen stehen sich Dinge und Gefühl ohne jegliche Formvermittlung gegenüber. Für Clarisse drückt sich dieser Zustand darin aus, daß "die Dinge in Gefühl schwimmen" (S.1527).

Sprache und Denken

Was das Verhältnis von Sprache und Denken angeht, lassen sich einige aufschlußreiche Beispiele anführen, die dem Denken als einem wortlosen begrifflichen Vorgang ähnlich wie den Gefühlen den Vorrang zugestehen. Als Walter Clarisse und Meingast in einer intensiven Unterhaltung beobachtet, kommt ihm der "zwittrig unklare, abseits aller Logik geborene Gedanke, daß die beiden dort drüben in einer ungehemmten und zu mißbilligenden Weise Gott anriefen. Das war, wenn man einen solchen wunderlich gemischten Zustand schon ein Denken nennen muß, doch ein solches, das sich in keiner Weise aussprechen läßt, weil die Chemie seines Dunkels durch den lichten Einfluß der Sprache augenblicklich verdorben wird" (S.915). Ganz ähnlich kann sich auch Clarisse nicht erklären, wie sie eigentlich auf den sonderbaren Erlösungsgedanken gekommen ist, obwohl Meingeist ihr wohlwollend zugesteht daß sie "instinktiv das rechte Wort dafür" gebraucht habe (S.834). Agathe fühlt sich von den Ausführungen ihres Bruders so sehr berührt, weil ihr seine Gedankengänge bereits bekannt vorkommen: "Überhaupt hatte sie sich schon vieles von dem, was er sagte, selbst gedacht; bloß ohne Worte, denn so bestimmte Behauptungen hätte sie ... niemals aufgestellt!" (S.730).

Als Ulrich nach seinem Zusammentreffen mit Fräulein Strastil über deren Geständnis unreflektierten Literaturkonsums und des "Fühlens" als Lektüreresultat nachdenkt, geschieht das "teils in Worten, teils wirkte die Überlegung als wortloser Einwurf ins Bewußtsein hinein" (S.867). Agathe entdeckt, als sie sich an ihren ersten Mann erinnert, daß "er viel zu jung für sie geworden" ist. Als sie sich fragt, welche Gefühle sie ihm noch entgegenbringen könnte, stellt sie fest: "Sie bedeuteten ihr nichts, sie vermochte sich nicht einmal eine deutliche Vorstellung von ihnen zu bilden. Eigentlich löste sich alles in nichts auf." Ähnlich geht es ihr mit dem ehemals als so wichtig empfundenen Gesprächen mit ihm: "Agathe wickelte neugierig alte Aussprüche aus Seidenpapier der Erinnerung, die sie als wunder wie klug darin aufbewahrt hat" (S.760). Sie muß feststellen, daß sie auch diese überbewertet hatte: "Was sprechen so junge Leute miteinander? Welche Bedeutung geben sie ihren Angelegenheiten? Wie komisch und anmaßend sind sie oft! Wie täuscht sie die Lebhaftigkeit ihrer Einfälle über deren Wert!" (ibid.)

Sprache und Handeln

Obwohl Ulrich eine offensichtliche Abneigung gegen die handlungsorientierten sogenannten Für-Männer hat - der Sozialist Schmeißer, Meingast und der "Tu-Gut" Lindner gehören alle zu dieser Gruppe, weil sie für und nicht in etwas leben (S.1328) - muß auch er sich über die Rolle des Handelns im Zusammenhang mit dem Gefühl Rechnung ablegen. Dabei wird ihm klar, daß sie in einem wechselseitigen Verhältnis stehen: "Das Gefühl wird in die Sprache der Handlung übersetzt, und die Handlung in die Sprache des Gefühls, wodurch, wie bei jeder Übersetzung, einiges neu hinzukommt und einiges verlorengeht" (S.1282). Sprachlich kommt diese Wechselwirkung so zur Einsicht: "Unter den einfachsten Verhältnissen spricht davon schon der bekannte Ausdruck, daß ein Schreck in die Glieder fahre; denn es darf ebensogut gesagt werden, daß auch die Glieder in den Schreck führen: ein Unterschied wie der zwischen `starrem Schreck´ und `schlotternder Angst´ beruht ganz auf diesem zweiten. Und was damit von der einfachsten Ausdrucksbewegung behauptet wird, gilt auch von der umfangreichen Gefühlshandlung" (ibid.).

Diotima, als sie langsam von ihrem seelenvollen Höhenflug wieder zur Erde zurückkehrt und nun sehr handlungsfreudig orientiert ist, erklärt ihrem Vetter Ulrich den Wechsel ihrer Einstellung mit folgenden Worten: "Unser Jahrhundert durstet nach einer Tat ... In der Tat liegt ein großartiger Pessimismus gegenüber den Worten: Leugnen wir nicht, daß in der Vergangenheit immer nur geredet worden ist: Wir haben für ewige und große Worte und Ideale gelebt ... Es ist etwas Gesundes daran, wenn man heute darauf verzichtet, den verschütteten Eingang zur Seele zu suchen, und lieber danach trachtet, mit dem Leben fertig zu werden, wie es ist!" (S.812).

Sprache und Wirklichkeit

In einem interessanten Vergleich über das "gespannte Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, Gleichnis und Wahrheit" identifiziert Ulrich diese Pole auf die zwei "Grundverhaltensweisen des Gleichnisses und der Eindeutigkeit" (S.593): "Eindeutigkeit ist das Gesetz des wachen Denkens und Handelns ... und sie entspringt der Notdurft des Lebens, die zum Untergang führen würde, wenn sich die Verhältnisse nicht eindeutig gestalten ließen. Das Gleichnis dagegen ist die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum herscht, es ist die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der Dinge in den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht" (S.593). Wenn man nun nach Wahrheit im Gleichnis sucht, vollzieht sich folgender Prozeß: er hat "die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste Kräfte und Geistes sich während dieses Vorganges als Dampfwolke davonmachen. Es läßt sich heute manchmal nicht der Eindruck abweisen, daß die Begriffe ... nur ausgekochte Gleichnisse sind" (S.593-594).

Dieses Zitat scheint uns das gesamte Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, Form und Inhalt, Wort und Ding auf einen bedeutsamen Nenner zu bringen: ganz wie Mach im Ich eine notwendige Orientierungsfunktion sieht, wird hier der Sprache diesselbe Rolle, und zwar ebenfalls aus pragmatischer Lebensnotwendigkeit, zugeschrieben. Diese Auffassung ist vermutlich ebenfalls Mach'schen Ursprungs, findet sich aber auch bei Vaihinger und Mauthner (Kühn, S.242) und wird auf allgemein skeptisches Gedankengut zurückzuführen sein (Desbordes, S.66). Man kann sich kaum einen eindrucksvolleren Vergleich für die zwar unzureichende, aber lebenswichtige Aneignung und Organisation der Realität durch die Sprache vorstellen als den des Eindickens und der Dampfwolke.

Mehrere Aussagen beweisen, wie arbiträr die Sprache bei ihrer Ordnungsaufgabe verfährt. Hier lohnt es sich, auf Shakespeares Wolke des Polonius zu verweisen. Obwohl diese in einem allgemein ontologischen Zusammenhang zur Sprache kommt, darf sie wegen des relativen Erfolges der sprachlichen Wiederspiegelung als analog verstanden werden. Ulrich spricht von dem Bewußtsein, das als eine Schablone der sinnlichen Wahrnehmung fungiert: "das Verhältnis der Außen- zur Innenwelt (ist) nicht das eines Stempels, der in einen empfangenden Stoff sein Bild prägt, sondern das eines Prägestocks, der sich dabei deformiert, so daß sich seine Zeichnung, ohne daß ihr Zusammenhang zerrisse, zu merkwürdig verschiedenen Bildern verändern kann" (S.1364). Er sagt nun, was auch sehr gut auf die gesamte Spanne der abstrakten und konkreten Wörter zutrifft: "Selten macht man sich eine Vorstellung davon, wie weit das reicht und daß es von schön und häßlich, von gut und böse, wo es noch natürlich zu sein scheint, daß des einen Morgenwolke des anderen Kamel sei, über bitter und süß oder duftig und übelriechend, die schon etwas Sachliches haben, bis zu den Sachen selbst reicht, mit ihren genau und unpersönlich zugewiesenen Eigenschaften, deren Wahrnehmungen scheinbar ganz unabhängig von geistigen Vorurteilen ist und es in Wahrheit nur zum großen Teil ist" (ibid.).

Im Zusammenhang mit dem Begriff "zornig" kommt Ulrich zu dem Schluß, daß die Sprache "launisch und unberechenbar" verfährt (S.1276): "... sie (spricht) vom Gefühl bald als von einem Zustand, der verschiedene Vorgänge umschließt, bald als von einem Vorgang, der aus einer Reihe von Zuständen besteht; auch bezieht sie ... ohneweiters und bald so, bald anders die Vorstellungsbilder der Person und des Außen und Innen in ihre Ausdrucksweise ein" (ibid.). Ähnlich heißt es, daß die Trennung von Gefühlen in Vorgänge und Zustände "mehr der sprachlichen Denkweise angehört als dem wissenschaftlichen Tatsachenbild", und daß das Gefühl schlechthin "sowohl ein Zustand als auch ein Vorgang zu sein shceint, ebenso wie es weder ein Zustand noch ein Vorgang zu sein scheint; und eines von beiden will so berechtigt erscheinen wie das andere" (S.1275-76).

Daß gerade gefühlsmäßige Vorgänge sich nur schwer beschreiben lassen, ist schon mehrfach erwähnt worden. Hier sei also nur noch auf eine Überlegung Agathes hingewiesen: "Ihr Körper sagte ihr, daß er schon in wenigen Jahren beginnen werde, seine Schönheit zu verlieren: also die Gefühle zu verlieren, die sich, unmittelbar aus seiner Selbstgewißheit kommend, nur zu einem geringen Teil durch Worte oder Gedanken ausdrücken ließen" (S.732).

Daß die Sprache Eigenschaften in die Dinge legt (so S.1278), und daß man bei Versagen der letztlich sehr zerbrechlichen Sinnzusammenhänge "allsogleich wieder vor der unbeschreiblichen und unmenschlichen, ja vor der widerrufenen und formlosen Schöpfung" (S.1090) steht, haben wir schon erläutert. Erwähnt sei hier noch ein diachronisch bestimmter Sinnverlust, wonach die ursprüngliche Bedeutung durch langen Sprachgebrauch in ihr genaues Gegenteil verkehrt worden ist: "Es stammen die Namen Ziel und Zweck aus der Sprache der Schützen: Bedeutet also ziellos und zwecklos in seinem ursprünglichen Zusammenhang nicht soviel wie kein Tötender sein? So kommt man bloß dadurch, daß man die Spur der Sprache verfolgt - eine verwischte, aber verräterische Spur! - schon darauf, wie sich allerorten der roh veränderte Sinn an die Stelle von bedachtsameren Beziehungen gedrängt hat, die ganz verlorengegangen sind. Es ist das wie ein überall zu fühlender, nirgends zu fassender Zusammenhang" (S.559).

Ähnlich geht es Ulrich mit dem folgenden Begriff: "Darum schien ihm auch das, man Wechsel oder gar Fortschritt der Zeiten nennt, nur ein Wort dafür zu sein, daß kein Versuch bis dorthin kommt, wo sich alle vereinen müßten, auf dem Weg zu einer das Ganze umfassenden Überzeugung ... Natürlich kam es Ulrich als eine ungeheuerliche Überhebung vor, anzunehmen, daß alles gleich nichts gewesen sein solle. Und doch war es nichts. Unermeßlich als Sein, Gewirr als Sinn" (S.872).

Abschließend wollen wir noch kurz auf drei Beispiele rein formaler sprachlicher Verwirklichungen eingehen, die alle total sinnentleert sind. Auf Diotimas "Schwämmchen"-Funktion haben wir schon hingewiesen. Auch Agathe redet leeres Geräusch, wenn sie ihren Mann Hagenauer nachahmt, wobei sie seine Redeweise "auswendig gelernt (hat) wie eine Reihe sinnloser Worte" (S.703). Schließlich geht es Ulrich nicht viel besser, wenn er gescheit über Liebe philosophiert, sich dabei aber fühlt, als ob "er in einer fremden Sprache reden würde, in der er geläufig weitersprechen konnte, aber äußerlich, ohne daß die Worte in ihm Wurzeln hatten" (S.558), oder wie in der Unterhaltung mit Dr. Strastil sprachlich blendet, aber inhaltlich versagt: "Fräulein Strastil warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Sie war nicht imstande, ihn zu verstehen; ihre große Denkerfahrung in reinen Begriffen nützte ihr nicht das geringste, sie konnte die Vorstellungen, mit denen er bloß behende um sich zu werfen schien, weder auseinanderhalten, noch zusammenbekommen; sie vermutete, daß er rede, ohne zu denken" (S.866).

Um zu unserem letzten Abschnitt überzuleiten, noch ein etwas außergewöhnliches Beispiel für das Mißverhältnis von Sprache und Wirklichkeit. Walter unterstellt Clarisse, daß sie sich überarbeitet habe und daher auch überreizt sei: "Clarisse sah ihn nur mit einem hochmütigen Blick an: `Riecht ihr denn nicht die Leichen?´ fragte sie ruhig. `Ich rieche sie immerzu!´ In diesem einfachen Satz, den sie sehr einfach aussprach, lag wirkliche Gegenwart und es ging von ihm eine stumme Erschütterung aus" (S.1468). Clarisse hat hier die Wirklichkeit in nichtsprachlicher Art erfaßt und schockiert mit der Formulierung ihrer Einsicht die gesellschaftlichen und sprachlichen Konventionen. So verweist Ulrich sie mit diesen Worten in ihre Schranken: "Irgendetwas hat dich wirklich überreizt, Clarisse. Ich sage nicht, daß es falsch ist, was du sagst. Aber ein gesunder Mensch sperrt sich dagegen" (ibid.).

Ein privates Zeichensystem

In Clarisse bietet sich die Gelegenheit, das Zustandekommen eines semiotischen, also rein zeichenmäßigen Systems zu verfolgen. Clarisse verliert zwar den Zusammenhang mit der allgemein anerkannten, gezähmten, gesellschaftsorientierten Realität, dafür ist sie aber andererseits überaus sensibel für eine direkte, erlebte und normalerweise schwer zu erfassende Wirklichkeit. Sie beschreibt ihren Zustand so: "Wahnsinn ... ist nichts anderes, als daß man ohne Halbheit und Maß das tut, was alle andern maßvoll und halb tun" (S.1510). Ähnlich stellt sie fest, daß "vernünftige, verständige Menschen ... sich der Welt an(passen), starke aber passen die Welt sich an" (S.1528). Auch Ulrich muß anerkennen, daß "die Grenze zwischen Wahn und Gesundheit ... unsicher und ausdehnend ist" (S.1523), und daß ein Geisteskranker so wie auch "ein Förster ... eine andere Welt als ein Botaaniker oder ein Mörder (sieht)" (S.1521). Die Dialektik von krank und gesund kommt auch in den räumlichen Gegebenheiten des Ulrich/Clarisse-Abenteuers zum Ausdruck: die Insel, auf der das ungewöhnliche Zeichensystem Clarissens zur Ausführung gelangt, wird als "Insel der Gesundheit" bezeichnet, während Ulrich und Clarisse auf einer nahgelegenen anderen Insel leben, die als "Wohninsel" beschrieben wird und "mit ihren Kanonen, Scharten, Bastionskämmen, Häuschen und Bäumen wie ein rundes, volles, ausgestoßenes Wort dalag, das den Zusammenhang mit seiner Rede verloren hat" (S.1519).

In der Verständigung zwischen Clarisse und Ulrich spielen Worte eine immer geringere Rolle, während Clarissens Zeichen an Bedeutung gewinnen. Das Verhältnis von Wort und Sache wird also mehr und mehr mit dem von Zeichen und Sache ersetzt. Ulrich gelingt es, wenn auch nicht immer vollständig, sich Clarissens Sprache anzueignen gelingt: "Er war kaum einige Schritte gegangen, so stieß er auf eine Spur. Es waren zwei Steine und eine darüber gelegte Feder; das hieß: Ich wünsche dich zu sehn, komm zu mir, so schnell wie der Vogel fliegt, aber du wirst mich nicht finden. Einige Schritte weiter lag ein runder, ausgesuchter Stein im Weg: das hieß, ich bin hart, stark und gesund. War es aber ein Stück Kohle im weißen Sand, so bedeutete es: ich bin heute schwarz, trübe und traurig ... das wiederholte sich oft, und allmählich lernte er diese Sprache verstehn, die sie erfunden hatte: (S.1519-20).

Zwei Dinge sind hier hervorzuheben: einmal fällt die Einfachheit der Ausdrucksmittel auf, so daß für die Interpretation nur eines dieser Zeichen schon eine umständliche Reihe wörtlicher Umschreibungen notwendig ist; zum anderen kommt die Bedeutung der konventionellen Bindung schon hier bei der elementarsten Zeichensetzung deutlich zum Ausdruck: es ist Beobachtung und ständige Wiederholung die Ulrich den Zugang zu Clarissens Sprache verschaffen.

Später nimmt er auch aktiv an der Entwicklung dieser Sprache teil: "Und dann kamen die Zeichnungen im Sand. Pfeile und Kreise, ein brennendes Herz und ein sprengendes Pferd, alle gewöhnlich nur mit so wenig Linien angedeutet, daß sie nur dem Eingeweihten verständlich waren, und eine zusammengepreßte Sprache darstellend, in der sich die Herzschläge aufeinandertürmten. Diese Zeichen legten sie an im Sand, ritzten sie in die Balken der Hütte oder in die glatte Fläche eines Steins, vergaßen sie, fanden sie nach Tagen wieder und brannten vor Glück" (S.1520).

Eine besondere Eigenschaft dieses Zeichensystems ist der erhöhte Gefühlsgehalt: "Viele Gefühle, die sonst getrennt sind, drängten sich um solch ein Zeichen, man wußte nie recht, welche, aber allmählich beobachtete Ulrich auch an seinen eigenen Empfindungen eine solche Unsicherheit der Welt. Es hoben sich eigenartig erfundenen Gedankengänge Clarissens ab, die er beinahe verstehen lernte" (S.1521). Ulrich stellt fest, daß zwischen "(Clarisse) und den Dingen ... ein fortwährendes Zeichenaustauschen und Verständigen, ein Verschworensein, eine erhöhte Korrespondenz, ein brennend lebhafter Lebensvorgang (bestand)" (S.1525-26). Clarisse selbst erscheint "ihre eigene Person nur noch als ein Hindemis, unnatürlich eingeschoben in den lebhaften Vorgang zwischen der auf sie einwirkenden Welt und der Welt, auf die sie einwirkte. In den Augenblicken der höchsten Steigerung schien dieses Ich zu zerreißen und zu verlöschen" (S.1526).

Obwohl Clarissens System nicht immer völlig eindeutig ist - "eine Astgabel und ein Loch im Sand hieß: hier ist Clarisse, aber zugleich: sie ist eine Hexe und weitet ihr Herz" (S.1521) - hat es die ungeheuer große Ausdruckskraft der Selbstverwirklichung: "Wenn sie ihre Gefühle und Gedanken in den Sand grub, mit irgendeinem Zeichen, das voll davon war wie ein Boot, das kaum noch die Vielfalt der Lasten tragen kann, und der Wind wehte denn einen Tag lang darauf ... und verwischte die Schärfe der Umrisse wie die Sorgen des Lebens ein Gesicht verwischen, gar aber wenn man alles ganz vergessen hatte und nur durch einen Zufall wieder darauf stieß und plötzlich vor sich stand, vor einer Sekunde gepreßt voll von Gefühl und Gedanke, und eingesunken, verwaschen, klein und kaum kenntlich geworden, aber eingewachsen zwischen rechts und links, nicht vergangen, ohne Scheu von den Gräsern und Tieren umlebt, Welt, Erde geworden: Dann - ? : schwer zu sagen, was dann war, die Insel bevölkerte sich mit vielen Clarissen" (S.1520-21). Sie sieht auch ihre Zeichen als "ihre geheimen Kinder", und zwischen Ausdruck und Inhalt, Zeichen und Bezeichnetem besteht hier kein Mißverhältnis wie in der Sprache, sondern sie bilden eine wesenhafte Sinneinheit: "Sie nannte jeden Eindruck, den sie überhaupt aufnahm, so, denn er schmolz in sie hinein wie die Frucht" (S.1525).

Ulrich kann bis zu einem gewissen Grade mitempfinden, was in Clarisse vorgeht. Als Clarisse von Angstzuständen gepeinigt wird, erlebt er Ähnliches: "... und auch in Ulrich schloß panikartig - nicht eine Angst, ein Bündel von Ängsten, eine Welt der Angst empor, so daß er alle Vernunft aufbieten mußte, um selbst zu widerstehn und Clarisse zur Ruhe zu bringen. / Aber er bot nicht gern die Vernunft auf. In dieser Unsicherheit, welche die Welt in der Umgebung Clarissens annahm, konnte man sich seltsam glücklich leben fühlen. Die Zeichnungen im Sand und Modelle aus Steinen, Federn und Ästen nahmen nun auch für ihn einen Sinn an, als ob hier, auf der Insel der Gesunden, sich etwas erfüllen wollte, das von seinem Leben schon einige Mal berührt worden war" (S.1523).

In diesem Zusammenhang legt sich Ulrich noch einmal ausführlich Rechenschaft ab über die beiden entgegengesetzten Lebensführungen des Für-Seins und des In-Seins. Er kommt zu dem Schluß, daß eigentlich alles, was er bis dahin vollbracht hat, zu dem ersteren Modus gehört. Er schreibt diese Haltung dem nutzlosen, aber verständlichen Versuch des Menschen zu, seiner Endlichkeit zu entrinnen, und bringt sie auf die diese Formel: "Der Hund bespritzt den Stein mit sich und riecht zu seinem Exkrement: Spuren hinterlassen in der Welt, sich in der Welt ein Denkmal setzen, eine Tat ... ist der Sinn alles Heroismus. Ich habe etwas getan: das ist eine Spur, ein ungleiches, aber unvergängliches Abbild. Ich habe etwas getan: knüpft Teile der Materie an mich. Selbst etwas nur aussprechen heißt schon, einen Sinn mehr haben zur Aneignung der Welt ... Aber Ulrich kam auf der Insel der Gesundheit dazu, allen Ehrgeiz seines Lebens zu widerrufen" (S.1525).

Zusammenfassend läßt sich bemerken, daß sich die ganze Sprachthematik in dem Mann ohne Eigenschaften mit der Für/In-Problematik in Verbindung bringen läßt. Sprache im allgemeinen gehört dann zu dem Für- oder Handlungsorientierten Bereich, dem das Wesentliche, nur im In-Modus zu Erfassende, entgeht. Es wäre aufschlußreich, die geistesgeschichtlichen Hintergründe dieser Einstellung zu erforschen, aber das muß Gegenstand einer anderen Untersuchung bleiben.

Gaby Divay, Archives & Special Collections, University of Manitoba



Bibliography
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Originally prepared for a post-doctoral M.A. degree in German Studies
University of Manitoba, Winnipeg

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Divay, Gaby. "Die Sprachthematik in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften."
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