Mann ohne Eigenschaften / Gaby Divay, e-Ed. ©2009
 
 
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Gaby Divay's German Papers: Musil II
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Zur Dialektik in Robert Musils Novelle Die Portugiesin
von
Gaby Divay
University of Manitoba, Archives & Special Collections

© e-Edition, December 2009


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Archives & Special Collections

Obwohl Musil seine Novelle Die Portugiesin nennt, haben die Figur des Herrn von Ketten und seine Suche nach Selbstverwirklichung die zentrale Bedeutung in der Erzählung.

Von Anfang an wird die Zweideutigkeit seiner Existenz unterstrichen: Name, Ursprung, Ort des Wohnsitzes und Eigenschaften weisen alle auf eine wesenhafte Polarität hin. Zugleich wird deutlich, daß Herr von Ketten weniger eine Einzelperson als einen Typus verkörpert, der in der Portugiesin, die ebenfalls in ihren typischen Eigenschaften dargestellt wird, seine Antithese findet. Insofern handelt es sich in dieser Novelle, wie übrigens auch in Grigia und Tonka, weniger um die zwischenmenschlichen Beziehungen des Paares, als um die Darstellung zweier grundlegender Seinsweisen, und die Möglichkeit oder Unmöglichkeit, ihre Synthese zu verwirklichen.

In der Portugiesin gelingt es zwar, durch ein Wunder diese Synthese herbeizuführen, aber Musil läßt seine Erzählung in diesem Augenblick enden. Es bleibt daher offen, ob eine solche Synthese von Dauer sein kann, und wie es im Einzelnen um sie bestellt ist.

Herr von Ketten wird zunächst als Vertreter des reinen Tatmenschen dargestelt. Der Bereich des Geistig-Seelischen, zu dem es ihn dunkel drängt, kommt ihm nur als unbestimmtes Sehnen zum Bewußtsein. Daß dieser Bereich jedoch in ihm angelegt ist, kommt durch die Doppeldeutigkeit zum Ausdruck, mit der Musil seine Situation und Eigenschaften umschreibt.

Da ist zunächst der Name, der auf italienisch und deutsch in den Urkunden gefunden wird, was auf die Zughörigkeit zu zwei Kulturkreisen hinweist. Delle Catene oder von Ketten ist der Name eines Geschlechts das "aus dem Norden gekommen" ist und sich "an der Schwelle des Südens" niedergelassen hat, (Musil, 1979, S.63). Der Norden steht hier vermutlich für den kriegerischen, aktionsfreudigen germanischen Kulturkreis, während der Süden mehr schöngeistige Anliegen und verfeinerte lebensweise verkörpern mag. Die von Ketten leben demnach als Aktionsmenschen, und obwohl sie eine andere Seinsart erkennen können, haben sie den Anschluß daran noch nicht vollzogen: sie haben eben "an der Schwelle ... halt gemacht" (S.63). Die Hauptfigur der Novelle als Vertreter dieses Geschlechts hat offensichtlich an dieser Grenzsituation teil, und zwar wird damit auch auf seine innere Problematik aufmerksam gemacht.

In seiner eingehenden stilistischen Analyse der beiden Anfangsparagraphen weist Werner Zimmermann (S.113) auf die nüchterne Reihung im ersten Abschnitt hin: "sie hießen...; sie waren...; sie gebrauchten." Dieses Beispiel erinnert an Caesars militärisch-kurzen Stil, insbesondere an sein berümtes "ich kam, ich sah, ich siegte".

Die Bedeutung des Namens selbst ist ebenso zweideutig wie die geographische und ethnische Zugehörigkeit dieses Geschlechts: einmal drückt sich darin Herrn von Kettens Verbundenheit mit der Geschlechtstradition aus, indem er gleichsam als ein Glied in der Generationskette erscheint; zum anderen weist der Name auf seine Verstrickung im Aktionsmodus hin, indem sich darin eine Verkettung an das Tatdenken und damit die Notwendigkeit einer Befreiung spiegelt. Die "In-Ketten"-Symbolik weist ebenfalls auf eine bedeutungsvolle Isolierung hin, die nicht nur durch die soziale Sonderstellung der Fremdlinge aus dem Norden, sondern auch durch die Lage ihrer Burg verdeutlicht wird: sie liegt hoch oben auf einer "lotrechten Wand", ist also unzugänglich, und wird außerdem noch so von dem Getöse eines wilden Gebirgsflusses umschlossen, daß "kein Schall der Welt...von außen in das Schloß" (S.63) dringen kann. Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation führt von innen nach außen: das Auge kann dieses Gefängnis durchbrechen, wobei es dann von der "tiefen Rundheit des Ausblicks" überrascht wird.

Die Polarität von Norden und Süden, oben (Lage der Burg) und unten (Ausblick), innen und außen, Toben des Flusses und Rundheit des Ausblicks versinnbildlicht zwei gegensätzliche Lebesweisen, die mit der mittelalterlichen Philosophie durch vita activa und vita contemplativa umschrieben werden könnte. Die von Ketten repräsentieren die erstere zum Beispiel schon dadurch, daß ihr Handeln auf ihren Vorteil ausgerichtet ist. Viermal erscheint dieses Wort in den ersten fünf Paragraphen. "Kein Vorteil entging ihnen in weitem Umkreis", heißt es beispielsweise im dritten Absatz (S.63); und: "sie nahmen, was sie an sich bringen konnten, und gingen dabei redlich oder gewaltsam oder listig zu Werk" (id.). Mit allen Mitteln also kämpfen sie um ihn. Auch in der Wahl ihrer Frauen spielt deren Reichtum eine Rolle. Und obwohl ihre Schönheit auch entscheidend ist, wird sie weniger als ein ästhetisches Attribut als eine nützliche Fortpflanzungseigeneschaft angesehen: sie wollten schöne Söhne (S.64). Die "glänzenden Kavaliere" (id.) in den Herren von Ketten kommen nur in dem einen Jahr ihres Lebens zum Tragen, in dem sie werben. Selbst dieser Zug wird also nur nutzbringend und sozusagen als Waffe eingesetzt. Bei dem Herrn von Ketten in der Erzählung wird auch deutlich, wie sehr der Krieg sein Element ist, und gleichzeitig, wie fremd ihm die Seinsweise seiner Frau ist: "Traulich erschien ihm dagegen Kriegslist, politische Lüge, Zorn und Töten! Tat geschieht, weil andre Tat geschehn ist...Befehlen ist klar; taghell und dingfest ist dieses Leben...wie wenn man mit dem Finger weist und sagen kann, das ist dies." (S.72).

Während Herrn von Kettens Welt "taghell" ist und von Kriegführen, "Jagd, Abenteurern und Dingen" (S.71) bestimmt wird, ist die der Portugiesin in seinen Augen "fremd wie der Mond" (S.72). Ihr Element ist dementsprechend die Nacht. "Mondnächtige Zauberin" (S.75) nennt ihr Mann sie während seiner Krankheit, und sowohl die Zeugung ihres zweiten Kindes als auch die Vereinigung der Ehepartner am Ende der Erzählung vollziehen sich im Zeichen der Nacht. Rätselhaft und wesensfremd erscheint ihm seine Frau. Denn im Unterschied zu Herrn von Ketten, dessen Leben zielkräftig ausgerichtet ist wie ein Pfeil, der trifft (so ähnilch sieht ihn seine Frau, S.68), ist die charakteristische Seinsweise der Portugiesin ein abgerundetes In-sich-selbst-ruhen. Herr von Ketten vergleicht sie mit ihren Perlen, deren Rundheit eine "unbegreifliche" Sicherheit ausstrahlen. (S.65). "Schweigend wie eine Rose" hatte sie sich ihm anvertraut (S.71), und wie ein Brunnenstrahl "nur aus sich heraussteigend und in sich fallend" symbolisiert sie ruhige Gelassenheit (id.). Paul Requadt (S.326) hat auf einen "selbstverständlichen Bezug zu C. F. Meyers Gedicht" hingewiesen, und dieses Bild als "Selbstgenügen und Unangreifbarkeit des Schönen: (id.) interpretiert. Daß dieser ausgewogene Zustand allerdings ebenso wie der des Herrn von Kettens erlösungsbedürftig sein soll (S.327) will uns nicht einleuchten. Das Selbstgenügen der Portugiesin steht offenbar auch in Verbindung mit dem instinktiven, naturhaften Sein der Frau, das unter anderem in der romantischen Auffassung des Weiblichen postuliert wird.

Ein bedeutsamer Wesensunterschied besteht in der spezifischen Kraft des Herrn von Ketten und der Portugiesin: die seine ist physischer, fast animalischer Art, wie sie sich im Bild des wilden Wolfes darstellt. Daß seine Kraft aus den "Augen und Stirnen zu kommen" (S.63) scheint, ist eher ein Hinweis auf die Möglichkeit, die entgegengesetzte Seinsweise unter ganz gewissen Umständen erleben zu können. Weitaus häufiger sind Metaphern, die wie die "sehnengeflochtene Hand" (S.65) auf körperliche Stärke hinweisen. Dagegen ist die Kraft der Portugiesin psychischer Art, und liegt in ihrer unerschütterlichen Ruhe. Da diese Art seelischer Kraft Herrn von Ketten fermd ist, erscheint sie ihm als Ausdruck unbegreiflicher, fast magischer Mächte.

Das Wort Sehnen erscheint häufig (S.65, 67, 72, 73) und ist ebenso doppeldeutig wie Herrn von Kettens Familienname. Meistens bedeutet es, wie erwähnt, körperliche Kraft. Aber zumindest einmal erscheint es als Verb (S.72) und deutet damit auf Herrn von Kettens halb unbewußten Wunsch hin, die sehnige Kraft für einem anderen Zustand aufzugeben. Was Annie Reniers-Servranckx im Zusammenhang mit dem Wirklichkeitsmenschen Homo in Grigia sagt, trifft auch auf Herrn von Ketten zu: er ist auf der Suche nach dem "unauffindbaren Kern des Selbst." (S.169).

Die Gegensätze Tag und Nacht, männlich und weiblich, tatkräftig und ruhend, Tun und Sein, und wohl auch die Nord-Süd Polarität, die mit den Farben grün und blau symbolisiert wird, stehen mit der wichtigen Musil'schen Dialektik von ratioiden und nicht-ratioiden Existenzarten in engem Zusammenhang. Auf diesen und die Bedeutung des ebenso wichtigen "anderen Zustands" werden wir später zurückkommen.

Schon vor seiner Krankheit zeigt Herr von Ketten Anzeichen, daß er aus seinem Tat- und Zweckdasein auszubrechen wünscht. Dieser Zug wird sogar als einer allen von Kettens gemeinsamer beschrieben: "Sie wußten aber selbst nicht, zeigten sie sich in diesem einen Jahr (der Werbung, gd) so, wie sie wirklich waren, oder in allen andren" (S.64). Diese Unwissenheit, was ihr Sein anbelangt, ist schon vorher in ihrer Grenzlage an "der Schwelle des Südens" und in der Tatsache, daß sie "sich nirgends hingehören" fühlen (S.63), versinnbildlicht.

In Herrn von Ketten verdichtet sich die Suche nach einem anderen Sein im zwölften Jahr seiner Kriegsführung gegen den Bischof von Trient zu einer Existenzkrise. Erste Hinweise liegen in der Abwesenheit seines Blickes, wenn er sich in der rohen Gesellschaft seiner Kriegsgefährten befindet, und obwohl er ihre "groben Scherze" erwidert, dabei unbeteiligt bleibt (S.69). Er hat "keine Freude an Ordnung, Hausstand und wachsendem Reichtum" (S.72), und er sehnt "sich aus der Seele hinaus" (id.). Im Zusammenhang mit seinem "taghellen, dingfesten" Leben (id.) heißt es: "Das andre aber ist fremd wie der Mond. Der Herr von Ketten liebte dies andere heimlich" (id.). Das "andere" wird von seiner Frau verkörpert, und obwohl er versucht in ihre Welt einzudringen, will es ihm nicht gelingen, Zugang zu ihr zu finden. Im Gegenteil erlebt er "den Schlag eines magischen Widerstandes" (S.71). Obwohl er sich von dem "anderen" in der Portugiesin und in sich selbst angezogen fühlt, weicht er ihm verbissen aus: "Wenn er morgens in den Sattel stieg, fühlte er jedesmal noch das Glück, nicht nachzugeben, die Seele seiner Seele" (S.72). Er vermeidet fast ängstlich, zu Hause bei seiner Frau zu verweilen ("Er...war nie länger als zweimal zwölf Stunden zu Hause", S.69) und gönnt sich keine Ruhe "wie sich ein Müder nicht setzen darf" (id.). Sein krampfhaftes Sich-zurückziehen hinter seine Kriegstaten wird von der Portugiesin richtig als Schutzwall ausgelegt: wenn sie ihrerseits versucht die Welt ihres Mannes zu verstehen, findet sie im Wald, der Herrn von Ketten und seine Seinsart symbolisch repräsentiert, "immer neue Mauern" (S.66). "Der Wald öffnet sich, aber seine Seele weicht zurück", beobachtet sie (S.72). Als der Krieg aber plötzlich endet, verliert Herr von Ketten seinen wichtigsten äußeren Halt: "So hatte ein Ende gefunden, was nun schon in der vierten Erbfolge wie eine Zimmerwand gewesen war, die man jeden Morgen beim Frühbrot vor sich sieht und nicht sieht: mit einem Male fehlte sie" (S.74). Herr von Ketten hat damit seinen vertrauten, wenn auch ungenügenden, Lebensinhalt verloren und noch nichts gefunden, was ihn ersetzen könnte. Folgerichtig löst selbst ein so nichtiger Anlass wie der Fliegenstich (S.74) seinen Zusammenbruch aus: er erlebt die totale Auflösung seines Seins. Seine Krankheit ist wie ein Fieber-Purgatorium in dem er dahinschmilzt: "Der Kranke schmolz in seinem Feuer täglich mehr zusammen, aber auch die bösen Säfte schienen darin verzehrt und verdampft zu werden" (S.75). Nichts als "eine Form voll weicher heißer Asche" (id.) bleibt von ihm übrig, und man wird dabei an den Phönix-Mythos erinnert: Herr von Ketten scheint nun bereit, sich in einer neuen Daseinsart wieder zu erheben.

Nanda Fischer (S.227-228) beschreibt die Notwendigkeit eines solchen Auflösens im Zusammenhang mit dem "anderen Erleben" des Zöglings Törless: "Die Vorgänge im Menschen werden als Auf- oder Loslösung, auf die eine neue Zusammenschau folgt, erlebt". Ein "Aufbrechen der Wirklichkeit" und "eine Erschütterung des normalen Ich" sind unerlässlich, um die Aufnahme eines "anderen Zustandes" zu ermöglichen. Genau das scheint uns die Funktion der Krankeit des Herrn von Kettens zu sein: auch er wartet darauf, daß eine neue Existenz ihm zuteil wird: "alles aber lag in einer riesigen gütigen Hand, die so mild war wie eine Wiege... Das mochte Gott sein. Er zweifelte nicht, es erregte ihn aber auch nicht; er wartete ab..." (S.76). Nichts scheint ihm jedoch zuteil zu werden. Nachdem er mit der Tötung des Wolfes, den seine Frau aufgezogen hatte, auch noch die letzten Reste seiner früheren Wildheit überwindet, lebt er in einem nebelartigen Zustand (S.80) und scheint längere Zeit nichts als eine Karikatur seiner selbst zu sein. Selbst sein Kopf ist geschrunken. Zu dieser Zeit wendet die Portugiesin von ihm ab und "dem Jugendfreund" zu. Herr von Ketten kann sich in seinem Schwächezustand nicht durchsetzen, und obwohl er diesen Freund wegwünscht, bleibt er. Eine Wahrsagerin sagt ihm, er müsse "etwas" vollbringen, wenn er gesund werden wolle - um was es sich handelt, bleibt unausgesprochen. Dieses "etwas vollbringen müssen" erinnert an Sartre, in dessen literarischen Illustationen seiner Existenz-Philosophie l'acte die Selbstverwirklichung des Individuums herbeiführt und damit ein ansonsten absurdes menschliches Dasein zu rechtfertigen vermag.

Das plötzliche Auftauchen der kleinen Katze und ihr Martyrium führt die entscheidende Wende für die drei Personen herbei. Auf der realen Ebene, die der Knecht vertritt, hat sie die Räude und wird deshalb nach furchtbarem Leiden erschlagen. Auf einer übertragenen Ebene ist sie eine durchsichtige Parallele des Leidens Christi, und auch ihre Funktion in Bezug auf die drei Menschen in der Novelle ist die einer entscheidenden Erlösung. Für die Portugiesin ist die Katze wie ein Kind, dem sie ihre mütterliche Zärtlichkeit zukommen läßt. Für den Portugiesen ist sie ein Vorwand, der begehrten Frau körperlich näher zu kommen. Die größte Bedeutung aber hat sie für den Herrn von Ketten: er fühlt sich erinnert an seine "halb überwundene Krankheit" (S.81) und tatsächlich ebnet ihr Leiden und Sterben den Weg zu seiner völligen Genesung.

Die kleine Katze ist ein Wunder im christlichen Sinne. Hinweise wie "zweites Wesen" (S.81) "Ab-Wesen" (id.), "stiller Heiligenschein" (id.; auch S.82), "leuchtend schwach" (id.), "ihr Martyrium" (S.82), ihr Abnehmen an "Körperlichkeit" (S.83), ihre Löslösung "vom Irdischen" (id.) und ihre "Menschwerdung" (id.) erhärten die These der Christus-Parallele.

Nach diesem Ereignis begegnen die Ehepartner sich wortlos. In einer "Kuppel von Stille" (S.84) vereint sie das Bewußtsein, ein bedeutsames Zeichen erhalten zu haben. Herr von Ketten trifft zum erstenmal seit seiner Krankheit eine Entscheidung: er will den Portugiesen töten, falls er bis zum Abend nicht weggeritten sein sollte. Aber was ihm in seinem vorkrankheitlichen Leben leichtfiel und selbstverständlich war, ist ihm jetzt fremd: "Diese Musik seines Lebens war ihm mißtönend; Kampf erschien ihm wie eine sinnlose Bewegung, selbst der Kurze Weg eines Messers war wie eine unendlich lange Straße, auf der man verdorrt" (S.84). Anderersits findet er, daß "auch Leiden...nicht seine Art" (id.) ist. In Erwartung eines "Gottesurteils oder eines nahenden Wunders" (S.84) beginnt er in einer Art Trance-Zustand die Burgwand zu erklimmen. Als er sich seines Tuns bewußt wird, vollbringt er aus eigener Anstrengung "das Unwahrscheinliche", und gesundet daran, wie es ihm von der Wahrsagerin verkündet worden war. Ausdrücklich steht das Gelingen der Wanderklimmung im Zusammenhang mit der kleinen Katze: "Nicht er, sondern die kleine Katze aus dem Jenseits würde diesen Weg wiederkommen, schien ihm" (S.84). Seine Genesung und die darauffolgende Vereinigung der Gatten vollziehen sich also unter dem Einfluß des Wunders.

Herr von Ketten stellt fest, daß der Portugiese weggeritten ist, und als er das Zimmer seiner Frau betritt, ist es als habe sie auf ihn gewartet. Alles deutet darauf hin, daß die beiden gegensätzlichen Bereiche, die er und die Portugiesin verkörpern, sich in einer glücklichen Synthese zusammenfinden. Der "Vorhang des Brausens", anfänglich Symbol der Isolierung der von Kettens, umschließt jetzt beide wie ein Schutz. Die Portugiesin bestätigt in Anlehnung an ein Zitat aus Novalis Fragmenten Herrn von Kettens Erlösung und das ebenso wunderbare Zusammenfallen der Gegensätze: "Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden." (S.86).

Helmut Arntzen in seinem Musil-Kommentar hat Die Portugiesin "die geschlossenste, poetologisch sicherlich am meisten befriedigende Erzählung" (S.57-58) im Rahmen des Novellenkomplexes der Drei Frauen genannt. Das liegt vielleicht daran, daß sich in dieser Novelle das Zusammenfallen des ratioiden und nicht-ratioiden Bereiches, wenn auch nur andeutungsweise, verwirklicht. In Grigia, Tonka, der Amsel und vor allem auch im Mann ohne Eigenschaften versagen alle Bestrebungen dieses Ideal des "anderen Zustands" herbeizuführen.

Karl Eibl bemerkt (S.414), daß Musil 1918 in Skizze der Erkenntnis des Dichters "zwei ihrer Wesenheit nach verschiedene Gebiete" der Erkenntnis unterscheidet, und die Begriffe ratioid und nicht-ratioid einführt. Eibl fährt fort: "Obwohl er die 'Scheußlichkeit des Wortversuchs' zugesteht und ihn noch 1930 als `provisorisch' bezeichnet, kommt er in Aufzeichnungen und Essays immer wieder auf die Formel zurück. Auch für den Interpreten kann sie ... als Formel zur Bezeichnung einer Grundspannung in Musils Denken dienen, die ... Musils ganzes Werk bestimmt." Wo Nanda Fischer (S.225) die beiden Bereiche umschreibt, fühlen wir uns sehr an die Gegebenheiten in der Portugiesin erinnert: da ist im Zusammenhang mit dem Ratioiden von allem von fester, praktischer Orientierung, alltäglicher Wirklichkeit, Objektverhalten und Kausalität die Rede: Herr von Ketten ist ganz offensichtlich auf dieser Ebene anzusiedeln. Das Nicht-Ratioide dagegen berührt die Portugiesin mit folgenden Beschreibungen: ethisch-ästhetische Beziehungen, ursprüngliche Sehweise, Subjektverhalten und Sinn für verdeckte Wirklichkeit.

Nach Alfred Doppler (S.140) verweist "die Aufteilung des Lebens und der Welt in ein ratioides und nicht-ratioides Gebiet ... deutlich auf die naturwissenschaftlich-philosophischen Anschauungen Ernst Machs, mit dessen `Erkenntnishaltung' Musil sich in seiner Dissertation...(Berlin, 1908) eingehend beschäftigt hat".

Von den drei Seiten (S.442-444), die Egon Friedell Mach in seiner vorzüglichen Kulturgeschichte der Neuzeit widmet, ist Folgendes von Interesse: "Der Gegensatz zwischen Welt und Ich, Ding und Empfindung, Physik und Psychologie ist aufgehoben." Und Eberhard von Büren bemerkt ähnlich, daß Musil mit der Unterscheidung ratioid/nicht-ratioid nicht die Existenz zwei getrennter Wirklichkeiten, sondern zwei polare Anschauungsweisen einer Wirklichkeit vorschlägt. Diese polaren Anschauungsweisen werden in der Portugiesin deutlichst von der männlich-ratioiden Figur Herrn von Kettens und der weiblich-nichtratioiden Figur seiner Frau vertreten.

Wie manche Musil-Kritiker in Ulrich und seiner Zwillingsschwester Agathe eine Einheit sehen, und Uwe Baur dasselbe für den Erzähler A2 und den Zuhörer A1 in der Amsel-Novelle annimmt, meinen auch wir, daß Herr von Ketten und die Portugiesin Abstraktionen der ratioiden und nicht-ratioiden Elemente, wie sie innerhalb eines jeden Individuums vorhanden sind, darstellen sollen. Die auffallende Typologisierung der beiden Figuren, die sich schon in Herrn von Kettens Rolle als Vertreter seines Geschlechts und in der Namenlosigkeit der Portugiesin zeigt, und die darüber hinaus in der oben erwähnten Antithetik von männlich/weiblich, usw. ihren Niederschlag findet, scheint uns eine solche Annahme zu bestätigen.

Annie Reniers-Servranckx (S.179) nimmt darüber hinaus an, daß die Figur des Jugendfreundes einen Teil Herrn von Kettens verkörpert, und zwar den galanten, werbenden jungen Mann, der er im Jahr seiner Werbung war.

Mit Elizabeth Boa sind wir der Meinung, daß die religiöse Thematik des Wunders nicht unbedingt darauf hinweist, daß die Synthese der Gegensätze eine religiös-mystische Erfahrung bedeutet. Boa wendet sich gegen Paul Requadts Auslegung in diesem Sinne (und damit auch all derer, die ihm darin gefolgt sind, wie z.B. Murray Hall und Werner Zimmermann) indem sie sagt: "(Requadt) confuses the religious perspective of the characters with the intellectual perspective of their creator" (S.126). In der Tat scheint uns nur der mittelalterliche Hintergrund der Portugiesin die Einführung eines Wunders zu gewährleisten. Ohne ein solches Wunder erweist sich ja das Zusammenfallen der Gegensätze, wie oben erwähnt, in anderen Erzähungen als undurchführbare Utopie.

Nach allem hier Ausgeführten scheint es, daß für Musil eine antithetische Sehweise charakteristischer ist als eine dialektische, sei es im Sinne Hegels (These, Antithese, Synthese) oder Nietzsches (Sollen, Wollen, Sein). Denn obwohl in der Portugiesin tatsächlich eine Synthese erfolgt, wird diese eigentlich nur angedeutet, während die polaren Unterschiede der Hauptfiguren detailliert herausgearbeitet werden, und uns daher wesentlicher erscheinen.

Gaby Divay, Archives & Special Collections, University of Manitoba



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Originally prepared for a post-doctoral M.A. degree in German Studies, University of Manitoba, Winnipeg



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