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Goethes Naturauffassung***
von
Gaby Divay
University of Manitoba, Archives & Special Collections
© e-Edition, Sept. 2006

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Archives & Special Collections


Einleitung

In Kröners Philosophischem Wörterbuch heißt es unter dem Stichwort Goethe (S.239):
"In der Gegenwart (1978) beschäftigt man sich eingehend mit den naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes weil man in ihnen ein Mittel zu finden hofft zur Vereinigung des mathematisch-physikalischen Weltbildes - das "richtig", aber unanschaulich ist, - mit dem naivnaturalistischen - das anschaulich, aber eben nicht "richtig" ist."

Dieses Interesse an Goethes Auffassung der Natur findet seine Berechtigung in einem ethischen Anliegen, das wegen heutiger Probleme wie Umweltverschmutzung, atomarer Waffenbedrohung und technologischem Übergewicht im Alltagsleben zu einer kritischen Überprüfung des gängigen naturwissenschaftlichen Weltbildes herausfordert. Zwei Weltkriege und die ständige Gefahr einer monumentalen Selbstvernichtung der Menschheit durch nukleare Errungenschaften haben die euphorische Bewertung des technologischen Fortschritts einer negativ-kritischen Beurteilung weichen lassen.

Goethes Auffassung der Natur steht in polarem Gegensatz zu der mechanistisch-positivistischen Richtung im Gefolge Bacons. Sie sieht den Menschen als integrierten Bestandteil der Natur und ist durch ein respektvolles Verhältnis zu einer umfassenden Ordnung und insbesondere zur organischen Natur gekennzeichnet. In Goethes naturwissenschaftlichen Versuchen tritt eine geduldige und behutsame Befragung zu Tage, deren einziges Ziel ein vertieftes Verständnis der Natur ist. In diesem Zusammenhang spricht er von einer "zarten Empirie", die allerdings einen hohen Grad ethischer Reife voraussetzt: "Es gibt eine zarte Empire, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird." ( M&R , Nr.509)

In den modernen Wissenschaften steht der Mensch der Natur schroff gegenüber, und wenn er sie mit seinen Methoden befragt, liegt ihm an einem Naturverständnis nur insofern, als es sich zur Naturausbeutung eignet. Man hat es also da mit einer brutalen Empirie zu tun, deren Zielrichtung die einseitig betriebene Nutzung im Hinblick auf den Menschen ist. Dabei wird rücksichtslos abgebaut und ausgenützt was in dieser Sicht als "notwendig" erscheint. Die zerstörerische Wirkung dieser Richtung sieht man nach knapp 300 Jahren an den erwähnten Umweltsproblemen, die deutlich einen Erschöpfungszustand der Natur anzeigen. Der explosiv anmutende Fortschritt auf technischem Gebiet steht mittlerweile in bedrohlichem Mißverhältnis zu einem nur schwer faßbaren ethischen Bereich, in dem eine vergleichbare Entwicklung nicht feststellbar ist. Weitdenkende Atomphysiker haben deshalb die Menschheit mit einem Kleinkind verglichen, das ein gefährliches Spielzeug in der Hand hält.

Goethe scheint diese bedrückende Situation vorausgeahnt zu haben. Jedenfalls polemisiert er mit ungewöhnlicher Ausdauer und Verbissenheit gegen Newton, der für ihn das neuzeitliche physikalische Naturverhältnis verkörpert. Die zunehmende Abstraktion im wissenschaftlichen Denken bildet für ihn eine lebensfeindliche Kluft zwischen Natur und Mensch, und die Entwicklung immer komplizierterer Instrumente sind ihm ein Symbol für diese Entfremdung.

Im folgenden wird versucht, der Entwicklung der Goethe'schen Naturauffassung zu folgen, wobei besonders die naturwissenschaftlichen Interessen von etwa 1780-1810 näher beleuchtet werden.

Der junge Goethe

In der frühesten Phase lassen sich naturmystische Anklänge feststellen, wenn Goethe einen Altar für die Natur errichtet, auf dem er die außer ihm waltenden Naturkräfte als etwas Geheimnisvolles und doch Wesensgleiches verehren will. Ein naturmystischer Zug haftet auch seinem Interesse für die hermetische Tradition und besonders für die Magie an, die er 1769/70 im Kreise Susanne von Klettenbergs pflegt.

Als er im Winter 1770 Herder in Straßburg kennenlernt, der diese Bestrebungen als veraltet und unseriös bewertet, verheimlicht Goethe sorgfältig seinen "mystisch-kabbalistische(n)" Hintergrund. Die Überzeugung, daß in der Natur eine geistiges Kraft herrscht, behält er allerdings sein Leben lang bei.

Für die Zeit vor Goethes naturwissenschaftlichen Studien überwiegt also ein gefühlesbetontes, mystisches Naturverhältnis, wie es sich beispielsweise im Ganymed (1774) oder in der ersten Hälfte des Werther (1774) ausdrückt. Bezeichnend ist, daß während der Sturm-und-Drang Periode die Kunstproblematik Goethes Denken bestimmt. Das Genie wird im Sinne Shaftesburys als eine unbändige Urkraft aufgefaßt, und unterliegt einem immanenten Entwicklungsprinzip oder einer inneren Form. Die äußere Form wird erst gegen Ende der Frankfurter Zeit, wenn auch noch widerwillig, als notwendig anerkannt: "Jede Form, auch die gefühlteste, hat etwas Unwahres; allein sie ist ein für allemal das Glas, wodurch wir die heiligen Strahlen der verbreiteten Natur ... sammeln" ( Der junge Goethe , Bd.5, S.352-3). Wachsmuth (S.145) sieht in dieser Äußerung aus dem Vorwort zu Goethes Brieftasche "einen ersten Brückenschlag zum nächsten Lebensabschnitt".

Die frühen Weimarer Jahre

Als ersten naturwissenschaftlichen Beitrag sieht Dorothea Kuhn (1971, S.164) die Mitarbeit an Lavaters Pysiognomischen Fragmenten , von denen Goethe 1775 bemerkt, daß darin vom Äußeren auf das Innere geschlossen werde. Ein wirklicher Umschwung von einer innerlich gefühlten zu einer äußerlich dargestellten Naturgesetzmäßigkeit, den Wachsmut (S.147) mit einer "kopernikäischen Wendung" bezeichnet, vollzieht sich aber erst in den frühen Weimarer Jahren.

Goethes innere Form der Genie-Zeit wird gern mit neuplatonischem Gedankengut in Verbindung gebracht. Sie findet nun ihre Entsprechung in einem Formbegriff, der letztlich auf Aristoteles zurückgeht. Daß die Monade sowohl bei Giordano Bruno als auch bei Leibniz mit der aristotelischen Entelechie auffallende Gemeinsamkeiten hat, ist offensichtlich, und auch die damit verbundene Teleologie der keimhaft angelegten, wesenhaften Entfaltung in einer graduellen Stufenfolge der Natur entspricht dem aristotelischen Physis-Begriff (Nobis, S.56).

Leibniz hat mit dem Bild der lückenlosen Kette ("Natura non facit saltus") einen außerordentlich großen Einfluß auf das Naturbild des 18. Jahrhunderts ausgeübt. Durch Haller, Buffon ( Histoire naturelle (1749; dt.1771), und vor allem durch die Keimlehre des Schweizer Biologen Bonnet findet sie weite Verbreitung. Goethe soll Bonnet schon 1772 gelesen haben, und vor allem der Glaube an kontinuierliche Übergänge in der Natur (Leibniz' Diktum bei Bonnet:"Die Natur leidet keinen Sprung") findet sich überall in Goethes geologischen, morphologischen und optischen Studien.

Anfang der achtziger Jahre liest Goethe mit großer Begeisterung Buffons Contemplation de la nature ( 1764-1804) in dem Nisbet das bedeutendste naturgeschichtliche Werk des 18. Jahrhunderts sieht. Ähnlich wie Bonnet in den fünfziger Jahren von "moule intérieur" und "dessin primitif" spricht, findet Goethe hier den Begriff von einem "modèle intérieur". Goethe ist überzeugt, daß ihm die Natur auf geduldige Befragung ihr Geheimnis eines Urplanes enthüllen wird, und so hat er sich zur Zeit seiner intensivsten Naturforschungen nicht entmutigen lassen, Anzeichen dieses Planes zu entdecken und zu beschreiben.

Durch seine praktischen Aufgaben im Bergbau, Forstwesen und in der Weg- und Wetterkommission sieht sich Goethe zu den verschiedensten naturwissenschaftlichen Beobachtungen angeregt, und er eignet sich nun ein erstaunlich weitgreifendes und gründliches Wissen an. Schon 1780 läßt er seine umfangreiche Mineraliensammlung ordnen, und für Frau von Stein sind durch ihn "die gehässigen Knochen und das öde Steinreich" interessant geworden (HA,13,S.587).

1781 hört Goethe bei Loder in Jena anatomische Vorlesungen, und nach eingehenden Untersuchungen kann er 1784 das Vorhandensein des Zwischenkieferknochens im Menschen nachweisen. Er wurde bis dahin dem Menschen abgesprochen und galt daher als Beweis, daß die Tiere grundlegend anderer Art seien.

An Herder schreibt er (27.3.1784):
"Ich verglich mit Lodern Menschen- und Tierschädel, kam auf die Spur und siehe da ist es ... es ist wie ein Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mirs auch in Verbindung mit deinem Ganzen gedacht, wie schön es da wird." (HA, 13, S.586).

Dieses "Ganze" ist der erste Teil von Herders Ideen , der 1784 erschien und sich nach Wachsmuth (S.17) wie ein naturphilosophischer Kommentar zu Goethes praktischen Studien ausnimmt.

Wie Goethe in einem Brief an Knebel (17.11.1784) zeigt, geht es ihm darum, an den Tatsachen die lückenlose Stufenfolge und damit die Harmonie der Natur zu beweisen. Im zweckvollen Aufbau der Tiere oder des Menschen läßt sich diese Harmonie im Kleinen, im Inneren beobachten. Zusammengenommen bilden aber auch alle Geschöpfe ein harmonisches Ganzes: "Und so ist wieder jede Kreatur nur ein Ton, eine Schattierung einer großen Harmonie."

Der Gedanke einer kosmischen Harmonie geht auf die pythagoräische und platonische Sphärenmusik zurück und steht in engem Zusammenhang mit der Stufenfolge. Herder und Goethe sind sich bis in die 90er Jahre über diese Grundgedanken einig, wobei bei Herder der Humanitätsbegriff, bei Goethe der Formbegriff zentral ist.

Um 1785 beginnt Goethe seine botanischen Studien, und auch hier geht es ihm darum, einen weiteren Nachweis für die "große Harmonie" anhand der "wesentlichen Form" (an Frau von Stein, 5. & 10.7.1786) zu erbringen. Seine fluchtartig unternommene Italienreise im Herbst 1786 war unter anderem auch durch die Hoffnung motiviert, dort das "Muster", das "Modell", oder mit einem später Terminus, den "Typus" aller Pflanzen zu finden . In Palermo meint er, diesem Urbild greifbar nahe zu sein (9.6.1787, an Fr.v.Stein).

Allerdings muß er bald einsehen, daß er das Naturgesetz der inneren Formung aller Pflanzen keineswegs schlüssig darstellen kann. Deshalb beschränkt er sich nach seiner Rückkehr aus Italien auf die Beschreibung der kleinen Harmonie, nämlich auf das Urorgan des Blattes: alle Teile der einjährigen Pflanze sind spezialisierte Blattformen, vom kräftigen Stengel bis zum zartesten Blütenblatt. Die knolligen Wurzeln, die hier nicht ganz ins Bild passen wollen, vernachlässigt er dabei geflissentlich.

Den Gedanken der Metamorphose versucht Goethe bald nach 1790 auf das Knochengerüst der Säugetiere anzuwenden. Dabei sucht er von vornherein nach dem bestimmenden Organ, das er im Wirbelknochen vermutet. Auf seiner zweiten Italienreise findet er 1790 auf dem Judenfriedhof in Venedig einen zerborstenen Schafsschädel, an dem er sich von der Natur darin bestätigt fühlt, daß der Schädel aus Wirbeln geformt ist.

Auch hier wollte sich die verheißungsvolle Entdeckung nicht gefügig erweisen:
"Nur für einige Knochen des Kopfes schien ihm die Umwandlung aus dem Wirbelknochen aufzeigbar. Für die Hilfsorgane: Arme, Beine, Rippen, ging es schon gar nicht. Wie Oken es siebzehn Jahre später tat, die Parole in die Welt zu rufen: 'Der ganze Mensch ist nur ein Wirbelbein, das war nicht Goethes Art.'" (Wachsmuth, S.21).

Nachdem der Wirbel als Organ-Modell versagt hat, sucht Goethe bis etwa 1796 nach dem Urtypus der Gestalt der Wirbeltiere. Obwohl er zu keiner homogenen Typuslehre gelangt, bildet seine vergleichende Methode die Grundlage der exakten Anatomie, die der Biologe Owen 1840 als Homologielehre einführen wird.

Goethes morphologische Studien bleiben insgesamt fragmentarisch. Abgesehen von der Metamorphose der Pflanzen (1790) wurde keine seiner Arbeiten veröffentlicht. Der 1806 unternommene Versuch einer "Einleitung zur Morphologie" geriet über die Anfangstadien nicht hinaus. Erst in den sechs Heften "Zur Naturwissenschft überhaupt" (1817-1824) erscheinen die wichtigsten Hauptgedanken in der Öffentlichkeit.

Der Goethe der Farbenlehre

Der entscheidende Anstoß zu seiner intensiven Beschäftigung mit der Farbenlehre erfolgt rein zufällig: 1790, als Goethe lange entliehene Prismen an den Jenaer Hofrat Büttner zurückgeben soll, will er sie vorher noch schnell ausprobieren (G, Gesch. d. Farbenl. , Konf. , S.259). Zu seinem Erstaunen stellt sich die erwartete farbige Aufsplitterung des Lichts nicht ein, und nur an der Grenze von Hell und Dunkel zeigen sich Farben. Er folgert daraus, "daß eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen", und "daß die Newtonische Lehre falsch sei. Nun war an keine Zurücksendung der Prismen mehr zu denken." (ibid). Man ist sich damals wie heute einig, daß Goethe hier irrt und dies bei genauerer Kenntnis Newtons auch hätte einsehen können.

Goethe selbst spricht davon, daß "ein entschiedenes Aperçu" -- nämlich seine Intuition der falschen Folgerungen Newtons -- "wie eine inokulierte Krankheit anzusehen" sei (G. Gesch. d. Farbenl ., Komm ., S.263), und das weist mit den deutlich polemischen Angriffen auf ein emotional bedingtes Verhältnis zu seinem Forschungsobjekt. Während Newtons Theorie das Licht in heterogene Teile zerlegt, ist es Goethe um grundlegende Einheit zu tun: "Das Licht ist das einfachste, unzerlegteste, homogenste Wesen, das wir kennen. Es ist nicht zusammengesetzt. Am allerwenigsten aus farbigen Lichtern ... Die Farben werden an dem Licht erregt, nicht aus dem Licht entwickelt".

Mehrmals erwähnt er Newtons Versuchsbedingungen, insbesondere die Camera obscura (S.259, 261), die das Licht zersplittert. Er wiederholt Newtons Versuche, und richtet seine Dunkelkammer "so finster als möglich" (S.261) ein, lehnt aber von vornherein diese "Taschenspieler-Bedingungen" (ibid) ab.

Er will "die Farbenlehre aus ihrer atomistischen Beschränktheit ... dem allgemeinen dynamischen Flusse des Lebens und Wirkens" wiedergeben (G., Zur Farbenlehre , §746, S.490), und fordert die Studenten der newtonischen Optik auf: "Man verlasse die dunkel Kammer, erfreue sich am blauen Himmel und am glühenden Rot der untergehenden Sonne nach unserer Anleitung".

Erst die Anfänge der Spektralanalyse um 1820 bestätigen Newtons Theorie, aber Goethe läßt sich auch davon nicht überzeugen:
"Frauenhofers Bemühungen kenn ich; sie sind von der Art, die ich ablehne ... Gott hat die Natur einfältig gemacht, sie aber suchen viel Künste" (an Sternberg, 12.1.1823).

Obwohl Goethes sorgfältige Versuchsreihen durchaus mit der inkuktiven Methode vereinbar sind, widerstrebt ihm Newtons "hypothetisch-deduktives" Denken (Nisbet, S.222), weil dieses sich eben durch ein allzugroßes Abstraktionsbestreben von dem Gesamtzusammenhang der Natur auszeichnet. Auch Goethe bedient sich mitunter der verhaßten Instrumente, aber sein Vorgehen ist im wesentlichen deskriptiv, oder, wie Bulle sagt, "auf eine Phänomenologie" ausgerichtet (S.179).

Goethes "naturwissenschaftliches Denken (bleibt) immer in engster Verbindung mit der erfahrbaren Wirklichkeit" (Reuther, S.699). Bezeichnenderweise sieht er in der natürlichen Beschaffenheit des Menschen und insbesondere im Sehorgan die besten Mittel der Naturerfassung:
"Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann. Und das ist eben das größte Unheil ... daß man ... blos in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen will" (Brief an Zelter, 22.6.1808)

Obwohl Goethe letztlich eine Erfahrung höherer Art, nämlich den Zusammenhang der "reinen Phänomene" anstrebt (G., Erfahrung , S.25) und damit auf erkenntnistheoretischem Gebiet weit optimistischer ist als Kant, betont auch er des öfteren, daß vor allem das Rätsel des Lebens als unerklärliche Tatsache akzeptiert und verehrt werden muß:
"Diejenigen Körper, welche wir organisch nennen, haben die Eigenschaft, an sich oder aus sich ihresgleichen hervorzubringen. Dieses gehört mit zum Begriff eines organischen Wesens, und wir können davon weiter keine Rechenschaft geben."

Auf die kantischen Unterscheidung von Subjekt und Objekt, von Erfahrung und Erkenntnis war Goethe zwar schon 1790 kurz nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Urteilskraft aufmerksam geworden, gelangt aber erst durch Schillers Vermittlung zu einer bewußten Einschätzung seiner methodologischen und philosophischen Grundlagen. Bis dahin leidet er wie Aristoteles an "einer naiven Verkennung aller Schranken der Erkenntnis" (Lange, Gesch.d.Material. ,S.61). Wachsmuth nennt ihn einen naiven Realisten, bis er durch Kant "für immer aus der friedlichen Selbstverständlichkeit des Naturerkennens aufgestört" wird (S.148; dies erinnert an den Skeptiker Hume, der gesteht, durch Kant aus seinem "dogmatic slumber" erweckt worden zu sein). Unter diesen Einflüssen verlagert sich zum Beispiel um 1795 in der Farbenlehre der Schwerpunkt von Goethes Interesse vom Licht auf das Auge.

Ab 1798 übernimmt Schelling im naturwissenschaftlichen Bereich mehr und mehr Schillers Stelle. Goethe erarbeitet sich nun die philosophischen Grundlagen für den historischen Teil seiner Farbenlehre, der ihn zwölf Jahre in Anspruch nimmt und ihm "immer wichtiger und liebwerter" (HA, 10, S.462) wird.

Besonders intensiv hat Goethe sich mit mit dem Materialisten Lukrez befaßt, der ihm zu der Zeit schon durch die Lukrez-Übersetzung seines Freundes Knebel häufig vergegenwärtigt wird. Abgesehen von zahlreichen Anleihen aus De natura rerum für die Farbenlehre und später die Meteorologie (Bapp,S.54), ist hier besonders der Plan eines kosmischen Naturgedicht zu erwähnen, den er um 1798/99 mit Schelling erwägt (Bapp, S.63). Die Gedichte "Metamorphose der Pflanzen" und "Metamorphose der Tiere" gelten als Fragmente dieses Planes.

Goethe schätzt Lukrez vor allem als Naturbetrachter, und auch seine teleologische Auffassung -- nämlich, daß er "kein göttlich Werk zu unserm Gebrauch" gelten läßt (zitiert bei Bapp) -- findet seine Zustimmung. Lukrez' radikalen Materialismus und die Herrschaft des Zufalls im Naturwalten, die er ja schon in den siebziger Jahren besonders bei Holbach abstoßend fand, lehnt er allerdings ab.

Der "atomistischen oder mechanischen Vorstellungsart", die für ihn auch Newton vertritt, setzt er seine als dynamisch bezeichnete Denkweise entgegen. Dabei betont er den Hilfscharakter beider, und meint, daß die dynamische Ansicht sich für das Werdende in der Natur, die atomistische für das Gewordene eigne.

Während Newton die Aufgabe der Physik darin sieht, die Natur auf mathematische Gesetze zurückzuführen, haben Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten immer den Menschen im Auge, der mit den Naturgesetzen in unauflösbarer Wechselwirkung steht. In der Natur sieht er ein Symbol Gottes, der sich, selbst unfaßbar, vor allem im Lebensprinzip offenbart. An seinem Lebensabend sagt er zu Eckermann: "Die Gottheit ... ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten; sie ist im Werdenden und Sich-Verwandelnden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten" (13.2.1829). Damit bestimmt er seine Grundeinstellung, wie sie nicht nur in seiner Naturwissenschaft, sondern oft in engem Zusammenhang mit ihr auch in seinem dichterischen Werk zum Ausdruck kommt.

Diese Lebensidee gehört zu seinem monistischen Weltbild, das sich von dem des ebenfalls monistischen Materialismus durch ein auf Harmonie beruhenden Zweckbewußtsein unterscheidet. Deshalb wendet sich Goethe so häufig und so heftig gegen die "grenzenlose Vielfachheit, Zerstückelung und Verwickelung der modernen Naturlehre" (M&R, Nr.662), wie sie in gesteigertem Maße noch unsere heutige Zeit beherrscht.

Schluß

Damit kehren wir zum Ausganspunkt unserer Betrachtungen zurück. Weizsäcker verweist darauf, daß Goethe -- und dies doch wohl im Gegensatz zur gängigen Einstellung -- "die Natur weder schaffen noch überwinden (wollte), sondern ... sich als ihr Geschöpf (empfand) und sie verstehen und ihr gehorchen (wollte)" (HA, 13, S.543).

Ernst Cassirer kommt zu dem Ergebnis, daß sowohl die mathematisch orientierte als auch Goethes Betrachtungsweise in der Natur nach einem umfassenden Gesetz suchen, daß aber "die mathematische Formel darauf aus(geht), die Erscheinungen berechenbar , die Goethesche, sie vollständig sichtbar zu machen" (zitiert bei Neubauer, S.307).

Für Heisenberg ist die von Goethe befürchtete Trennung von Natur und Mensch heute eine Tatsache. Den heutigen Naturforscher vergleicht er mit einem Bersteiger in den höchsten Gipfelregionen, "in der alles Leben erstorben ist, in der auch er selbst nur noch unter großen Schwierigkeiten atmen kann" (1941, S.432). In mehreren Aufsätzen erläutert der humanistisch gebildete Physiker das ethische Problem. So stellt er in seinem Essay "Das Naturbild Goethes und die technisch -naturwissenschaftliche Welt" die Frage, ob das auf Erfahrung und Verstand gegründete Wissen der modernen Wissenschaft irgend einen Wert habe (S.129), und meint schließlich, daß Goethes Warnung vor einer Überbewertung rational-abstrakter Operationen heute ganz besonders ernstzunehmen sei (S.141).

In Anschluß an Erich Hellers "Reise der Kunst ins Innere" behandelt Heisenberg kurz vor seinem Tod die "Reise der Naturwissenschaft in die Abstraktion" (1976, S.321). Hier verweist er auf die moderne Biologie, die den "Bauplan des Organismus in der Nukleinsäure" entdeckt hat. Der Erkenntniswert bleibt allerdings zweifelhaft, denn die Grenze zwischen belebter und unbelebter Materie (S.322) unterliegt denselben Unschärfenrelationen wie die Bestandteile des Atoms, die je nach Versuchsanordnung Materie oder Energie sein können (S.324). Dass "Am Ziel der Reise ... sich nicht mehr Leben und nicht mehr Welt" finden, sondern die Suche nach "Klarheit" im Aufbau der Natur, scheint für Heisenberg diese Methode zu rechtfertigen (S.325).

Weniger optimistisch zeigt sich Rapp (1984), der in Goethes "auf eine unmittelbare, ganzheitliche Anschauung gegründeten Naturverständnis" (S.43) ein historisches Überbleibsel einer besseren, aber leider nicht mehr verbindlichen Einstellung sieht.

Auch Waaser (1951) sieht in Goethes Naturauffassung ein zwar ernstzunehmendes, aber nicht genügend ernstgenommenes Modell: "Warum sich um eine Natur- Erkenntnis bemühen, haben wir es in der Natur- Beherrschung so herrlich weit gebracht!" Er verweist auf die "metaphysische Unruhe" des kürzlich (1987) verstorbenen Atomphysikers de Broglie, der sich schon vor Hiroschima gefragt hat, ob nach den wissenschaftlich notwendigen Experimenten der Atomkernphysik "noch menschliche Wesen übrigbleiben."

Goethes "zarte Empire", der nach Böhler (S.335) "die Funktion der Weit-sicht und Rück-sicht eigen" ist, und die voraussetzen sollte, daß"sich der die Natur erforschende ... Mensch... zugleich als Teil der Natur, und die Natur als Teil seiner selbst, begriffe und danach handele", ist für die moderne Naturwissenschaft nicht mehr maßgebend, denn sie ist im wahrsten Sinne der Worte "rückbindungsfrei und rücksichtslos" (Flügge, S.442).


Originally presented at the 1987 German Studies Associaion (GSA) Conference in St. Louis, MO.

Divay, Gaby. "Goethes Naturauffassung".
rev. e-Edition, ©September 2006
<http://gaby-divay-webarchives.ca/psg/goetheGSA87.html>
Accessed ddmmmyyyy [browser preview: 9 p.]

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